»Dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen«
Es gehe nicht um Schuld, sagt der eben erst aus dem Lager befreite Knabe Köves in Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen: es gehe »nur darum, daß man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach, allein dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen«.1 Einzusehen wäre dem Verstand zuliebe, dass man ihn hat und sich nicht einfach darauf hinausreden kann, ihn nicht zu haben; das heißt: das Vermögen, für sich selbst zu bestimmen, durch welches Urteil dem Bewusstsein eine Tat oder Untat oder Nichttat erscheint – sei’s nun unter einem moralischen Gesetz oder unter der Annahme, dass es kein solches gebe oder was immer. Köves ist, ohne es zu wissen, ein Anhänger von Hobbes und Spinoza: Niemand könne »sein Recht oder seine Fähigkeit, frei seine Vernunft zu gebrauchen und über alles zu urteilen, auf einen anderen übertragen, noch kann er dazu gezwungen werden.«2
Die Frage muss jedoch zugleich lauten, in welcher Form das Urteil überhaupt möglich sei, wenn ebenso der Zwang bedacht wird, der unter den Bedingungen gesellschaftlicher Unfreiheit herrscht und auf den jeder Imperativ insofern Antwort zu geben sucht, als er – über jenen gedanklichen Anstand und jene Aufrichtigkeit im Bewusstsein hinausweisend – ja nicht bereit ist, Freiheit auf Freiheit des Denkens einzuschränken. Andererseits liegt in dieser Gleichsetzung des Gedankens und der Tat, der Theorie und der Praxis, unausgesprochen die Utopie einer Gesellschaft, in der Denken und Handeln nicht mehr ‚existentiell‘ wie durch einen Abgrund getrennt sind, genauer: durch den Abgrund des Politischen; in der für den Einzelnen nicht allein gedanklich zu urteilen, sondern auch dem Urteil gemäß zu handeln möglich wäre, ohne damit in letzter Instanz das Leben, das eigene wie das der anderen, aufs Spiel zu setzen – wobei freilich schon vorausgesetzt ist, dass Letzteres kein Zweck sein darf. So sagt das Erzähler-Ich bei Kertész schließlich zu sich selbst: Gerade da sei der »Haken: ich bin da, ich weiß wohl, daß ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, daß ich leben darf.«3 ‚Existentiell‘ meint hier also nichts anderes, als dass im Begriff des Handelns im Unterschied zum Denken ein unmittelbar Gefahrdrohendes immer schon impliziert ist, selbst wenn es nur das Äußerste, das geschehen kann, betrifft. Noch die Vorstellung, dass Theorie ihrerseits eine Form der Praxis sein kann, enthält darum ein Wahres, worin das Bestehende denunziert wird: Der Zeichner, der eine Mohammed-Karikatur veröffentlicht, weiß am besten, was heute Einheit von Theorie und Praxis bedeutet.
Warum sich dieser Karikaturist aber der Gefahr aussetzt, kann an einem bestimmten Punkt gesellschaftlich nicht mehr begründet werden: er tut es eben, wie Köves sagen würde, dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, und das lässt sich darum mit Kant nur aus dem intelligiblen Vorhandensein eines Imperativs erklären. Auf dieses Unableitbare musste schon Marx, gegen Hegel gewandt, rekurrieren, um auf das Leid des Einzelnen jenseits der Bewegung des Weltgeists den Blick zu lenken; sah sich Adorno genötigt zurückzukommen, weil gegen die potentielle Wiederholung von Auschwitz gerichtet kein Weltgeist, auch nicht der des revolutionären Klassenbewusstseins, mehr zählt, sondern bloß Freiheit als einzige Voraussetzung jedes Imperativs. Aus ihr lässt sich allerdings für dessen jeweiligen Inhalt nichts ableiten – wohl aber aus der »Abscheu« vor dem leibhaftigen Schmerz und dem gewaltsamen Tod, den Adorno in der Formulierung des Imperativs zum Ausdruck bringt.4
Es gibt innerhalb von Herrschaftsverhältnissen, so vermittelt darin Herrschaft sein mag, eben doch nur die eine Möglichkeit, Freiheit wahrzunehmen in dem hier gemeinten, doppelten Wortsinn: durch einen Imperativ hindurch. Als dessen Voraussetzung weist sie dennoch über das moralische Gesetz auch hinaus: wenn es um das Existentialurteil geht, dass die Todesdrohung die Garantie der Einheit ist, auf der jegliche Form von Herrschaft beruht. Darum kann Marx bei dem Formellen des Kantischen Imperativs nicht stehenbleiben und Adorno vom »Stande der Unfreiheit« überhaupt sprechen. Ihre Imperative sind im Hinblick auf jenes Existentialurteil formuliert, im Hinblick auf die Befreiung der Gesellschaft von deren eigenem Zwang, der sich eben in letzter Instanz im gewaltsamen Tod manifestiert. Mit Auschwitz aber wurde die »Endlösung«, das ‚Existentialurteil‘ gegen die Juden, an die Stelle der Revolution gesetzt, und damit muss nicht nur die Möglichkeit eines anderen gesellschaftlichen Zustands immer zugleich als eine begriffen werden, die Wiederholung der Endlösung zu verhindern, sondern die Verhinderung selbst hat im Zweifelsfall der konkreten, einzelnen Situation Vorrang gegenüber der Möglichkeit, den Stand der Unfreiheit, die Herrschaftsverhältnisse im Ganzen, die doch auch Auschwitz zugrunde liegen, abzuschaffen.
Wem aber bereits das zu utopisch klingen mag, weil da von der nach wie vor aufrechterhaltenen Herrschaft die Rede ist, von Verhältnissen, in denen »der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« (Marx) sei, sollte wenigstens Eines bedenken: Selbst bei Hobbes, der doch gemeinhin als Apologet der Unfreiheit gilt, wenigstens insofern sie das Schlimmere des Bürgerkriegs verhindere, kann kein wie immer geartetes Gesetz getrennt betrachtet werden von dem höchsten Recht, sich Schmerz und Tod vom Leib zu halten – wodurch sich Hobbes natürlich in vielfältige logische Widersprüche verfängt, die weder anthropologisch noch politisch mehr aufgelöst werden können. An dieser Einheit droht allerdings philosophische Reflexion immer aufs Neue zu scheitern, denn sie bewusst zu machen, dazu bedarf es im Grunde der Formen der Kunst.
So hat auch der Roman eines Schicksallosen wesentlich in der Stimme des vom Lager erzählenden Knaben – fast möchte man sagen: in ihrem Klang5 –, die Form gefunden für die einzigartige Situation des Subjekts (»Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt«6) wie für dessen »quälbaren Leib«, die in welcher Gestalt auch immer und soweit es irgend möglich ist, zusammen hervortreten müssen: Voraussetzung des Urteils, das die divergierendsten Erfahrungen, die das Individuum macht, zu synthetisieren habe im Namen jenes »Anstands«, von dem der Junge am Ende des Romans spricht.
Vorabdruck aus dem neuen Buch von Gerhard Scheit: Kritik des politischen Engagements, das in diesen Tagen beim Freiburger ça ira-Verlag erscheint (ca. 700 Seiten, ca. 36 Euro). Wir danken dem Verlag für die Genehmigung zum Abdruck.
[1] Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen [1975]. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Reinbek 1998, S. 285.
[2] Die Stelle aus dem Theologisch-politischen Traktat hat Marx exzerpiert, die Hervorhebungen stammen von ihm: Exzerpte aus Benedictus de Spinoza Opera ed. Paulus [1841]. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Berlin 1975ff. Abt. IV. Bd. 1, S. 781.
[3] Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 287.
[4] Diese Formulierung lautet in der Negativen Dialektik folgendermaßen: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen.«
[5] Wer einmal gehört hat, wie der Autor aus seinem Roman vorliest, kann verifizieren, wie viel vom Klang im Text selbst enthalten ist.
[6] Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 283.