Verdrängung der Bisexualität

Vorabdruck eines Auszugs aus dem Beitrag von Renate Göllner im neuen Heft der sans phrase, das im Dezember 2014 erscheint.

»… die Bisexualität! Mit der hast du sicher
Recht. Ich gewöhne mich auch, jeden sexuellen
Akt als einen Vorgang zwischen vier Individuen aufzufassen.«

Sigmund Freud an Wilhelm Fließ

Die Bisexualität von Mann und Frau zählt neben der Theorie des Unbewussten, der Trieblehre, der sie letztlich auch zuzurechnen ist, und der infantilen Sexualität wahrscheinlich zu den weitreichendsten Entdeckungen Freuds, die Zeugnis von der Kühnheit und Unerschrockenheit seines Denkens ablegen. Zwar kam die Anregung von Wilhelm Fließ, doch hat nur Freud diesen Gedanken entfalten können, da er mit der zugleich entwickelten Trieblehre und seinem Begriff vom Ich die dazu unabdingbaren Voraussetzungen besaß. Zur gleichen Zeit hatte der junge Wiener Philosoph Otto Weininger in seiner philosophischen Abhandlung Geschlecht und Charakter ebenfalls eine Theorie der Bisexualität entworfen, doch handelt es sich dabei gleichsam um das genaue Gegenteil von Freuds Auffassung: Die Erkenntnis der Bisexualität wird hier gegen den Trieb gewendet und löscht damit die Sexualität selbst aus in einem Monismus des Phallus. Das Weib, so Weininger, besitze kein intelligibles Ich, sei ein Stück Natur, das unbewusst existiert. Während der Mann mit der Form identifiziert wird, ist das Weib bloß ungeformte Materie. Die Materie aber gilt Weininger so gut wie gar nichts, das heißt: »Das Weib ist nichts«. Der reine Mann erscheint als »das Ebenbild Gottes«, das Weib dagegen als ein »Symbol des Nichts«. (Bei Lacan schnurrt dann dieser ganze Wust an Schmähungen zu einem einzigen sexuellen Existentialurteil zusammen: La femme »n’existe pas«.) Dass sie eben doch existiert, unabhängig von der Kastrationsdrohung, die das gesellschaftliche Verhältnis der Geschlechter bestimmt, so wie der Mann unabhängig von der Identifikation mit dem Phallus, in dieser Erkenntnis bewährt sich die Freudsche Lehre gegenüber ihren Verballhornungen bei Lacan und dessen Nachfolgerin Judith Butler. Nur so ist es überhaupt möglich, von Bisexualität auszugehen, denn von ihr kann nur gesprochen werden, wenn beide Seiten, Natur und Gesellschaft existieren.

Worauf Freud in seinem eingangs erwähnten Brief an Fließ über die Bisexualität anspielt, sind sexuelle Präferenzen und Vorlieben, sogenannte weibliche und männliche Eigenschaften wie Aktivität und Passivität, die während der Lust durcheinander geraten, wodurch die herkömmlichen psychosexuellen Grenzen zwischen den Geschlechtern aufgehoben erscheinen. Mit Homosexualität aber hat der Begriff der Bisexualität zunächst nichts zu tun, jedoch verweist er darauf, dass der Trieb nicht festgelegt ist, und zeigt die ganze Stärke eines offenen Naturbegriffs, der sich sonst fast nur in der Kritischen Theorie findet.

Die Bedeutung der Annahme einer für die Psyche konstitutiven Bisexualität, wonach »unser aller Libido normalerweise lebenslang zwischen dem männlichen und dem weiblichen Objekt« schwankt, ist daher stets für beide Geschlechter von außerordentlicher Bedeutung. Jedes Individuum zeigt einander scheinbar ausschließende Triebregungen und Bedürfnisse, die entweder als männliche oder als weibliche gesehen werden können: »Von Beginn der subjektiv wahrgenommenen sexuellen Erregung an, muß demnach das Kind, gleichgültig, welchen Weg der manifesten sexuellen Objektwahl es später einschlagen wird, mit Vater und Mutter fertig werden, und dies kann es nur, weil es sich bisexuell identifizieren kann. Darum hebt auch Freuds schöner und oft mißverstandener Begriff der konstitutionellen Bisexualität nicht nur auf die biologische Konstitution ab, sondern auch auf die im Unbewußten stets vollzogene Objektwahl« (Reimut Reiche).

Während Freud die Unvollständigkeit und der fragmentarische Charakter seiner Untersuchungen zur weiblichen Entwicklung durchaus bewusst waren, schien er vom Konzept der Bisexualität, von seiner »unzweideutig bisexuellen Anlage« schon früh überzeugt und erachtete dessen Akzeptanz als unumgänglich, um die tatsächlich beobachtbaren Sexualäußerungen von Mann und Frau überhaupt verstehen zu können. Nicht so sehr weil er ein Mann war und ihm die Sexualität der Frau bis zu einem gewissen Grad ein Rätsel bleiben musste, sondern weil ihn von Beginn seiner Forschungen an beträchtliche Zweifel plagten, was denn nun »weibliche« und was »männliche« Eigenschaften überhaupt seien, war er um größtmögliche Offenheit bemüht und wollte eine vorschnelle Festlegung und, im Gegensatz zu Weininger, eine Bewertung vermeiden.

Bildet die anatomische Bisexualität, die durch das gleichzeitige Vorhandensein von männlichen und weiblichen Genitalien, wenn auch in ganz unterschiedlicher Ausprägung, charakterisiert ist, den Ausgangspunkt von Freuds Überlegungen, so steht doch die psychische Dimension, also die durch die Voraussetzung einer Bisexualität in dieser Hinsicht überhaupt erst mögliche Objektwahl im Zentrum seiner Untersuchung: »Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleiche freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche ... Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist.« Allerdings vergaß Freud an dieser Stelle hinzuzufügen, dass ebenso umgekehrt das ausschließliche sexuelle Interesse der Frau für den Mann ebenfalls der Aufklärung bedürftig ist. Erst durch einen, durchaus auch gewaltsamen Prozess der Zivilisation gelang es jedenfalls, die zunächst polymorph-perverse Anlage zuzurichten. »Weitere Ausblicke eröffnen sich, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, dass der Sexualtrieb des Menschen ursprünglich gar nicht den Zwecken der Fortpflanzung dient, sondern bestimmte Arten der Lustgewinnung zum Ziel hat. Er äußert sich so in der Kindheit des Menschen, wo er sein Ziel der Lustgewinnung nicht nur an den Genitalien, sondern auch an anderen Körperstellen (erogenen Zonen) erreicht und darum von anderen als diesen bequemen Objekten absehen darf.« Freud pocht an dieser Stelle deutlich auf diese an die erogenen Zonen (Partialtriebe) gebundene Lust, welcher zu ihrem Recht zu verhelfen wäre. Prägenitales Erleben ist nicht einfach mit dem ödipalen Konflikt erledigt, »sondern bleibt parallel bestehen, ist überhaupt konstitutiv für psychisches Geschehen allgemein und kann nicht auf das ‚sexuelle Vorspiel‘ beschränkt und dementsprechend in seiner Bedeutung verkannt werden. Insofern ist die Sexualität des Erwachsenen notwendigerweise immer kompromittiert von infantiler Sexualität, die sich dem Genitalprimat widersetzt« (Susann Heenen-Wolf).

An den Gedanken einer Lust, die auch der polymorphen Sexualität Raum bietet, knüpft eine Diskussion zwischen Adorno und Horkheimer an: »Ist nicht die genitale Sexualität gegenüber den Möglichkeiten der Erfahrung eine fürchterliche Verarmung?« – fragt Adorno, und auf den Einwand Horkheimers: »Das Genitale ist nicht einfach Beherrschung«, setzt er fort: »Die Partialtriebe melden gegenüber der Genitalität etwas Richtiges an … Ich glaube, daß das Ideal des Genitalcharakters ganz schlecht ist. Sein typischer Vertreter ist Siegfried, vom jungen Wagner als Proletariat konzipiert. Damit hängt sehr eng die Verkehrtheit des Glücks, das in der bürgerlichen Gesellschaft erreicht werden kann, zusammen.« Die Verkehrtheit des Glücks meint die falsche Zielorientiertheit, die Anstrengung, ja letztlich die Leistung, die dem Einzelnen gesellschaftlich abverlangt wird und die selbst vor dem Sexualakt nicht Halt macht. »Eng mit dem ‚Primat der Genitalzone‘ hängt eine für die männliche Sexualität folgenreiche Veränderung zusammen. Das neue, mit dem Primat der Genitalität errichtete Sexualziel, das aus ‚der Entladung der Geschlechtsprodukte‘ oder, anders ausgedrückt, aus dem Eindringen des Penis in die Vagina besteht, desexualisiert den Körper des Mannes und macht den Penis zu seinem einzigen Sexualorgan. Vorbereitet ist diese von Freud gedachte Veränderung durch die eminente Bedeutung des Penis für die Entwicklung der beiden Geschlechter in seiner Theorie. Am Ende dieser Entwicklung haben wir den Vorstellungen von Freud zufolge einen Mann vor uns, der über ein hochbedeutsames sexuelles Organ, nicht jedoch über einen besetzbaren sexuellen Körper verfügt, was zugleich bedeutet, dass er dem Begehren der Frau wenig Raum bietet.« (Martin Dannecker) Anders formuliert: Die Frau habe einen »Sexualkörper«, während der Mann vor allem über ein Sexualorgan, jedoch nicht einen »sexuellen Körper« verfüge. Auf diese Weise wäre der Primat des Phallus eben nicht als Signifikant, sondern als gesellschaftliches Verhältnis selbst im Intimsten bestimmt. Und damit ist das ganze Elend benannt, das die Sexualität der Erwachsenen gewöhnlich kennzeichnet und von dem sich wirklich zu befreien der Befreiung von Herrschaft gleichkommt.

Ohnedies ist es völlig unklar, was denn nun genitale Sexualität eigentlich bedeutet – abgesehen davon allerdings, dass durch sie erst die Einheit des Getrennten hergestellt ist, die jedoch nach Adornos Urteil zugleich als falsche, der Versöhnung widerstrebende begriffen werden muss. So gibt es im Sinne Freuds einerseits die Festlegung auf ein anatomisches Geschlecht, (durch Geburt und nicht durch male/female-Ankreuzung in der Geburtsurkunde), und andrerseits eine Festlegung auf eine unaufhebbare konstitutionelle Bisexualität. Das bedeutet, an ein bestimmtes biologisches Geschlecht (oder im Fall des Hermaphroditismus – nach heutiger Diktion: der Intersexualität – an beide) als das eigene körperlich gebunden zu sein – und zugleich nicht gebunden zu sein. Diese Ungebundenheit wird durch die gesellschaftlich hergestellte Einheit möglich, die in der genitalen Sexualität erlebt wird. Diese Einheit ist zwar eine falsche, aber doch eine Einheit, das heißt: Durch sie ist mit dem Objekt der Begierde Vermittlung hergestellt und solchermaßen homosexuelle nicht anders als heterosexuelle, sind auf ein oder auf beide Geschlechter gerichtete Triebziele möglich.

Die ‚transsexuelle‘ Umwandlung des Geschlechts durch einen chirurgischen Eingriff und hormoneller Behandlung eröffnet hingegen, zumindest teilweise, die Möglichkeit, von einem fixierten homosexuellen Triebziel aus das Geschlecht neu festzulegen. Damit erscheint sie wie eine Rücknahme der Objektwahl, also der konstitutiven Unbestimmtheit des Triebziels – wobei dies nicht selten unter großem gesellschaftlichen Druck oder politischem Zwang erfolgt: In der Islamischen Republik Iran, in der Homosexualität mit dem Tod bestraft wird, ist die Transsexualität nicht nur erlaubt, sie wird bewusst gefördert und auf diese Weise als Waffe gegen Homosexualität benützt.

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Sigmund und Anna Freud in den Dolomiten 1913. (Bild: Wikipedia)

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