Schottland als Wellnesszone der Progressiven?
»I am an American in my principles and wish we would let (them) alone to govern or misgovern themselves as they think proper.«
David Hume zu Benjamin Franklin, 1775
Im Jahr 1696 verabschiedete das schottische Parlament den »Act for Settling Schools«, der in jeder Pfarrgemeinende eine Schule samt Lehrer vorsah. Diese Schulen dienten zwar als Brutstätten der presbyterianischen Indoktrination, doch auch nichtreligiöse Bücher waren mit Buchstaben geschrieben, und einmal die Saat der Gelehrsamkeit gesetzt, wuchs sie der Religion bald über den Kopf. Der Dichter Robert Burns besaß 80 Jahre später als Jüngling schon eine enzyklopädische Bildung. Sein Vater, ein armer Landpächter, hatte seine kargen Einkünfte in einen Hauslehrer investiert. Ein Extremfall vielleicht, doch zeigt er schön, wie der schottische Protestantismus neben Bigotterie und Sinnenfeindlichkeit demokratische Tugenden, Egalität, Bildung und letztlich seine eigene Kritik und Überwindung forcierte. Als der große Jurist und Vater der schottischen Aufklärung Henry Home (Lord Kames) an seinem Totenbett von James Boswell an das Leben nach dem Tod erinnert wurde, erwiderte er: »Niemand glaubt an so was.« Beeindruckende letzte Worte eines Mannes, der seinen Schüler David Hume stets wegen dessen atheistischer Tendenzen gerügt hatte.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war der Buchdruck einer der führenden Industriezweige Schottlands, nirgends in Europa fanden Bücher höheren Absatz. Robert Burns, ein frivoler Frühsozialist und freigeistiger Verächter der Kirk of Scotland, wurde bei seinem ersten Ritt nach Edinburgh von Bauern, Bürgern und Landarbeitern mit Rezitationen seiner Lyrik empfangen; keine oral tradition eilte ihm voraus, sondern die Lektüre seines ersten Gedichtbandes.
Nationalpolitik bedarf bei ihrer programmatischen Einebnung differenzierter Gesellschaften, sozialer Brüche und kultureller Vielfalt zu einem organischen Kollektiv eines Mythos. Alex Salmond, der gewiefte Einpeitscher der einstweilen gescheiterten schottischen Unabhängigkeit, berief sich, welch kluger Schachzug, nicht wie die meisten Separatisten unserer Tage auf kulturelle Eigenständigkeit, auf Blut und Boden, konkret: auf den romantischen Highland-Anteil des schottischen Nationalmärchens, sondern auf dessen progressive Traditionen: Schottland als gemäßigt linke Antithese zum totalen Neoliberalismus der Londoner Eliten seit Thatcher, deren Premiers, ganz gleich ob Tories oder New Labour, ironischerweise schottische Namen tragen (Blair, Gordon, Cameron), kann nämlich auf historische Kontinuitäten zurückblicken. Jener moderne Spirit brachte ab dem 18. Jahrhundert eine innovative Kapitalistenklasse hervor, die wie nirgends sonst aus schlechtem sozialem Gewissen ihren Mehrwert ins Allgemeinwohl, in Bildung, Forschung und Infrastruktur investierte, was eine genuin schottische Aufklärung zur Folge hatte, die in Gestalt David Humes über London hinweg den französischen Kollegen die Hand reichte und die wichtigsten technischen Erfindungen der Neuzeit stimulierte. Als dialektisches Produkt dieser Dynamik aber erstarkte auch früh ein proletarisches Klassenbewusstsein, das sich in der Sozialdemokratie einpendelte, quasi im schottischen Volkscharakter sedimentierte und – immerhin – Deregulierung und Sozialabbau abzufedern wusste. Und es waren schottische Suffragetten wie Elsie Inglis und Flora Drummond, welche in der Ersten Frauenbewegung Großbritanniens seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielten. (Eine Schottin, Ethel Moorhead, warf dem prominentesten Feind des Frauenwahlrechts, Winston Churchill, 1911 ein
Ei an den Kopf.)
Schottland war zudem eine der wenigen europäischen Regionen, in der keine faschistische Bewegung je Fuß fassen konnte, so wie der schottische Nationalismus einer der wenigen Nationalismen darstellt, die sich nicht fremdenfeindlich gebärden. Das seit 1998 existierende Regionalparlament in Edinburgh reduzierte Studiengebühren auf ein Minimum und konnte der im restlichen Königreich grassierenden Privatisierung des Gesundheitssektors einen Riegel vorschieben.
Geschickt wusste Salmond sein freies Schottland als »torch for all progressives«, als »Fackel für alle Progressiven« zu verkaufen, als verheißungsvolle Synthese von lokaler Besonderheit und Kosmopolitismus. Kein Wunder, dass sich Antinationalisten wie Noam Chomsky für die Unabhängigkeit aussprachen und auch viele englische Linke ihre Hoffnungen in die Abspaltung eines »better Britain« setzten, das für sie treuhänderisch den präthatcherischen Status quo in die Zukunft hinüberretten und dereinst den Süden ideell zurückerobern sollte.
Wer ein längeres Gedächtnis hat, erinnert sich an die anderen, völkischen Töne der Scottish National Party, die sie in den 90er Jahren noch anschlug, als sie eher dem Jakobiter- als dem Jakobinertum huldigte, den gegenaufklärerischen Traditionen schottischer Geschichte, die sich mit dem Fake der ossianischen Gesänge und Walter Scotts Highlanddesign mindestens so paradigmatisch für die abendländische Geistesgeschichte erwiesen wie deren modernistischen Stränge: die keltischen Nebelgespinste, all die erfundenen Embleme schottischer Markigkeit wie der Kilt, den ein englischer Unternehmer Anfang des 18. Jahrhunderts aus dem Plaid schneiderte, um die Arbeitseffizienz seiner lokalen Billigarbeitskräfte beim Abholzen des Hochlands zu steigern, die erfundenen Clantartans, mit denen sich jene reaktionären Landbesitzer verkleideten, die ihre Bauern vertrieben oder in die Sklaverei verkauft hatten, weiters der auch in der romantischen Linken beschworene Mythos der Clan-Egalität, mittels dessen Feudalherren und Warlords ihre Schutzbefohlenen ausgebeutet hatten, im späten 20. Jahrhundert dann Sean Connerys behaarte Waden und »Braveheart«, für dessen Regisseur und Hauptdarsteller Mel Gibson bloß eine weitere Therapieetappe zum Ausleben der eigenen Gewaltneurosen, für den schottischen Nationalismus aber eine Affirmation seiner Lebenslüge von der historischen Kontinuität einer klassen- und kulturenübergreifenden Nationalidentität; ein amerikanischer Film, der als denkbar bestes Lehrstück faschistischer Ideologie taugt, wie es nicht einmal die Nazis fertigbrachten: ein Heldengesang auf männlichen Primitivismus, Erd- und Heimatverbundenheit, Homophobie, Zivilisationsverachtung und Brutalität. Hier wurde die nie vollzogene Genese der mitunter reizvollen Hochland-romantik des frühen 19. Jahrhunderts zum Faschismus in einer symbolischen Familien-aufstellung nachgeholt. Zugegeben, die martialische Bündelung dieser Heimattümelei hatte als das konstituierende Andere weniger Jamaikaner, Inder und osteuropäische Gastarbeiter denn die schwulen, verweichlichten weißen Engländer im Visier, und konnte sich folglich auch hinter einem antiimperialistischen Narrativ verstecken. Die SNP des Alex Salmond beschritt letztlich andere Wege, doch bedeutet die Nationalisierung der schottischen Errungenschaften nicht auch eine Essenzialisierung dieses relativ linken Spektrums? Die besänftigende Illusion einer besseren Welt inmitten des neoliberalen Overkills, von besseren Menschen, nämlich Schotten gehütet?
Es gibt zwar kein richtiges Leben im falschen, aber vielleicht ein etwas richtigeres. Die Abspaltung Schottlands wäre zunächst ein grandioser Denkzettel für die postdemokratische Politik Westminsters gewesen, hätte aber ungeachtet ihrer Singularität auch einen Präzendenzfall für jeden europäischen Trachtenverein liefern können, der seinen eigenen ökonomischen Claim abstecken will, ganz gleich ob er sich als Korsen, Katalanen, Padanier oder Flamen bezeichnet.
Der katalanische Separatismus ist – wie der flämische oder norditalienische – ein Wohlstandsnationalismus, der eine gleichfalls national konstituierte größere Solidargemeinschaft aufkündigen will und das bislang mit dem praktikablen Slogan des »Europas der Regionen« zu bemänteln wusste. Nicht nur ein serbischer Zentralismus stimulierte etwa die kroatischen und slowenischen Unabhängigkeitsbestrebungen, sondern die Annullierung der Transferleistungen, die das titoistische System für die ärmeren Regionen Jugoslawiens vorgesehen hatte. Tatsächlich hat das Nord-Süd-Gefälle in Großbritannien eher systemischen Charakter als den materiellen bei genannten Beispielen.
Schottland dürfte mit dem Scheitern der Eigenstaatlichkeit mehr gewonnen als verloren haben. Es hat Westminster noch mehr Autonomie abgerungen, und seine Linke wird sich nicht vor der Aufgabe einer Transformation der gesamtbritischen Gesellschaft drücken können anstatt sich in einem nordischen Musterstaat einzuigeln. Wirklich progressive Schotten hätten in einer links-nationalen Regierung zwar würdigere Gegner als die Londoner Raubtier-Yuppies gefunden, bei ihrem gesellschaftlichen Engagement somit auf höherem Niveau ansetzen können und letztlich doch die Lektion erteilt bekommen, dass die Erklärung der Egalität zum Volkscharakter die beste Strategie ist, sie de facto nicht einzulösen, und das System, das sie zu bekämpfen vorgeben, kein englisches, sondern ein globales ist, dem die Kleinstaaterei nichts entgegenzusetzen weiß als Realitätsflucht. Über ihren neu erworbenen Nationalstolz bestünde zumindest die Chance, ihr Verhältnis zum schottischen Aufklärer Adam Smith zu lockern, dem sie bislang als Ideologen des Kapitalismus misstraut hatten. Der könnte ihnen nämlich eine vordringliche Funktion einer jeden zivilen Regierung, ob schottisch, englisch oder klingonisch, erklären:
»Überall, wo es große Vermögen gibt, ist auch die Ungleichheit groß. Auf einen sehr Reichen kommen dann wenigstens 500 Arme, denn der Überfluss weniger setzt Armut bei vielen voraus. Ein solcher Reichtum der Besitzenden reizt zur Empörung der Besitzlosen, die häufig, durch Not gezwungen und von Neid getrieben, sich deren Eigentum aneignen. Nur unter dem Schutz einer staatlichen Behörde kann der Besitzer eines wertvollen Vermögens (...) auch nur eine einzige Nacht ruhig und sicher schlafen (...). Für den Erwerb wertvoller und großer Vermögen ist es daher unbedingt erforderlich, dass eine solche Verwaltung eingerichtet ist.«
Frivoler Frühsozialist und Freigeist: Robert Burns, im Ölgemälde von Alexander Nasmyth