Amerikanische Freunde
Herr Groll und der Dozent weilten in Grado, beide hatten Sehnsucht nach Meeresluft und guter Pasta. Am Morgen hatten die beiden sich getrennt, der Dozent wollte die neuesten Zeitungen lesen, Fidel Castros Tod und Donald Trumps Regierungsteam wollten umfassend analysiert sein. Herr Groll wiederum wollte dem Fischereihafen inmitten des Ortes einen Besuch abstatten.
Im Hafen putzten Fischer ihre Netze, Touristen schlenderten an den Trawlern vorbei, die am Stichkanal ins Ortszentrum aufgereiht lagen. Auf der »Amerigo Vespucci« saßen vier Mann auf Hockern und lösten Tang und Fischreste von den Kunststoffnetzen. Neben der Fischhalle hatte eine neue Osteria mit dem Namen »Zero Miglia« aufgemacht. Beim Zollhafen bunkerten Skipper Sprit für ihre Touren durch die Inselwelt der Lagune. Wenig später war Groll vor der Rückseite des Rathauses an der Uferpromenade angelangt. Unter einer Schirmplatane stand ein mannshoher Fels, aus dem ein mächtiger Propeller eines Bombers aus dem Zweiten Weltkrieg ragte. »Monumento realiazzato con I resti dell´elica appartenuto al B 24 »Liberator« dell 449. Brigada Statunitense precipitato nella Lagune di Grado domenica 30 gennaio 1944. I resti sono stati ritrovati, Il 22 Luglio 2003. Ai caduti dell´aria – to the fallen airmen«, las Groll.
»Hier ist ein amerikanischer Bomber abgestürzt«, sagte der Dozent hinter Grolls Rücken. »Die B 24 Liberator war ein schwerer Bomber, der in hohen Stückzahlen, an die zwanzigtausend Exemplare, gebaut wurde und mit der B 17 Flying Fortress die Hauptarbeit der Bombenflüge der US-Army leistete.«
»Seit wann kennen Sie sich bei Bombern aus?« fragte Groll.
»Seit ich ein Smartphone besitze und in Blitzesschnelle nachforschen kann«, erwiderte sein Freund. »Ich war vorher schon einmal hier und bin der Geschichte des Bombers nachgegangen.«
Groll nickte und setzte sich in Richtung Fußgängerzone in Bewegung. »Erstaunlich, daß die Amerikaner diese Ecke Friauls zum Zentrum ihrer Luftwaffenpolitik machten«, fuhr der Dozent, neben Groll herlaufend, fort. »Unweit von hier, in Aviano, betrieb die US Air Force einen Großflughafen. Von dort starteten die Bomberverbände, die den Süden und Westen Österreichs ab 1944 mit Bombenteppichen belegten. Sie trugen auf diese Weise das ihre zur Befreiung Österreichs vom Nationalsozialismus bei. Bei der Bevölkerung waren sie ebenso verhaßt wie die »Russen«. In nicht wenigen Fällen wurden überlebende Besatzungen von abgestürzten oder von der Flugabwehr abgeschossenen Bombern von der Zivilbevölkerung erschlagen.«
»Aviano ist nach wie vor in Betrieb«, meinte Groll. »Im Jahr 1998 kappte ein amerikanischer Düsenjäger bei einem Trainingsflug oberhalb der Ortschaft Cavalese das Seil einer Kabinenbahn. Die Gondel stürzte ab, zwanzig Menschen kamen ums Leben. Ich erinnere mich deswegen genau, weil ein Bekannter aus Floridsdorf bei der Talstation auf das Eintreffen der Gondel wartete um auf einen Aussichtsberg transportiert zu werden.«
»Und ich erinnere mich an einen Unfall der italienischen Kunstflugstaffel Frecce Tricolori, die vor Aviano ihre Basis hat. Bei einer Flugshow auf dem Luftstützpunkt Ramstein, dem größten Stützpunkt der US Air Force außerhalb der USA«, sagte der Dozent. »Die Einsätze in Afghanistan und dem mittleren Osten werden von Ramstein aus koordiniert. Verletzte Soldaten kommen aus der halben Welt nach Ramstein und werden im dortigen Großspital behandelt. Auch werden auf der Ramstein Air Base Atomsprengköpfe gelagert. In wenigen Minuten sind die Trägerflugzeuge einsatzbereit. Bei der Show stürzte eine Maschine der »Frecce Tricolori« in eine Zuschauertribüne und explodierte. Siebzig Tote, Schwerstverletzte und Verstümmelte waren die Folge. Die Amerikaner ließen keine deutschen Rettungskräfte aufs Flugfeld, es war ein unbeschreibliches Chaos.«
Groll bremste Joseph auf einer Aussichtskanzel ein. Angestrengt schaute er in die Ferne. Vor der istrischen Küste zog ein Autotransporter über den Horizont.
»Die ‚Frecce‘ zählen zu den berühmtesten Kunstflugstaffeln der Welt, ihr Ursprung geht bis in die Zeit des André Heller Italiens, Gabriele D‘Annunzio, zurück«, fuhr der Dozent fort. »Wissen Sie, daß er im August 1918 nach Wien flog und über der Innenstadt Flugblätter abwarf? Er ist vom Flugfeld bei Campoformido in der Nähe von Aviano gestartet.«
»Was stand auf den Flugblättern?«
»D‘Annunzio gab an, Lobgedichte auf Italien, ich sage, Einladungen für eine Mailänder Modeschau. D‘Annunzio darf man kein Wort glauben, er war ein fanatischer Nationalist und Förderer des Schreihalses Mussolini. Aber er war immer nach der neuesten Mode gekleidet. Ein reaktionärer Freigeist.«
Groll konnte den Blick nicht vom Meer wenden, ein Stückgutfrachter schälte sich jetzt aus dem Dunst und folgte dem Autotransporter.
»Immerhin ist er in die Literaturgeschichte eingegangen«, erzählte der Dozent. »Aber nur, weil Franz Kafka in einem Artikel für die Prager Zeitschrift »Bohemia« von einer Flugvorführung in Brescia im Jahr 1909 berichtete, die Kafka anläßlich seiner Italienreise mit den Brod-Brüdern besuchte. Die weltbesten Piloten hatten sich dort die Ehre gegeben, unter ihnen Louis Blériot und andere Flugpioniere. Unter den Zusehern war neben Giacomo Puccini auch Gabriele D‘Annunzio.«
»Auch die Bombardierung Belgrads und anderer jugoslawischer Städte Ende der neunziger Jahre nahm von Aviano ihren Ausgang«, ergänzte Groll ohne den Schiffsverkehr zu vernachlässigen.« Und beim Rückflug wurden die nicht abgeworfenen Bomben in der Adria entsorgt. Worauf ein Fischerboot aus Grado mit acht Männern an Bord in die Luft flog, als eine scharfe Bombe an Bord gehievt wurde.«
»Ja, die Bomben der Amerikaner, einmal sind sie ein Segen, dann wieder ein Fluch«, sinnierte der Dozent. »Es scheint, daß wir uns mit dem neuen US-Präsidenten neu orientieren müssen. Das Bild vom »ugly american«, vom imperialistischen Monster, wird wieder aufleben.«
Groll wandte sich von den Schiffen ab und nahm wieder Fahrt auf. »Für manche unserer Landsleute gilt dies nicht. Zum Beispiel findet Norbert Hofer Gefallen an Herrn Trump, dessen pöbelhaften Manieren und jenseitigen politischen Ansichten.«
»Umso verstörender sei für ihn Kanzler Kerns Auftritt beim Fernsehsender Puls 4 gewesen, in dem Kern den FPÖ-Chef Strache umgarnte, lobte und ihm demokratische und staatsbürgerliche Lauterkeit konzedierte«, sagte der Dozent und überließ Groll den linken Teil des Weges, dessen Querneigung geringer war.
»Der verdutzte Strache wußte nicht, wie ihm geschah. Ungläubig registrierte er das politische Liebeswerben des Kanzlers, erst im Lauf des Gesprächs fand er seine Fassung wieder. Zwei Wochen vor der Wiederholung der Bundespräsidentenwahl hat er damit dem Kandidaten van der Bellen einen Bärendienst erwiesen. Wenn die FPÖ ohnehin eine demokratische Partei wie alle anderen ist, dann ist es auch nicht einsichtig, wieso man vor dem Präsidentschaftskandidaten Hofer warnt. Der Persilschein kommt der FPÖ gerade recht. Wenn die älteste Demokratie, die Engländer, und die Führungsmacht der westlichen Welt nationalistische Wege einschlagen und ihre Länder auf Gedeih und Verderb widerlichen Politschurken übertragen, wird das kleine Österreich sich diesem Sog nicht entziehen. Die FPÖ sieht Österreich ja schon als Mitglied der Visegrád-Staatengruppe, die dabei ist, in Donaueuropa einen autoritären Staatenblock zu errichten.«
»Alles halb so schlimm, Hofer und Strache werden das Kind schon schaukeln«, meinte der Dozent. »Es passt ins Bild, wenn das Burgenland, das von der EU mit Geld überschüttet wurde und damit die zurückgebliebene Infrastruktur auf Vordermann brachte, sich ebenfalls einem reaktionären Kurs verschreibt, und das durch eine von der SPÖ geführten Koalition mit den Freiheitlichen. Die Kürzung der Mindestsicherung für Flüchtlinge verkündete Soziallandesrat Darabos, der einst als aufrechter Linker in der SPÖ galt.«
»Ja, die aufrechten Linken. Man sieht ja an Bundeskanzler Kern, wie rasch sie sich in einen Linkspopulismus flüchten, wenn es ernst wird. Einen Linkspopulismus, bei dem man nur ein paar Details auswechseln muß, um ihn für rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien attraktiv zu machen. Bei dieser allgemeinen Begriffs- und Politverwirrung kommt es auf das Vorzeichen »links« oder »rechts« gar nicht mehr an. Beide Populismen vereinfachen bis zur Plattheit, beide wiederholen die immergleichen Stehsätze, beide nähern sich den Bürgern im Ton und im argumentativen Niveau einer Wirtshausrunde, beide propagieren Feindbilder (die bei Bedarf auch ausgewechselt werden können) beide schüren Neid und Hass zwischen den »braven Landsleuten« und den »Invasoren ins Sozialnetz«. Schließlich spielen beide Minderheiten und marginalisierte Gruppen gegeneinander aus, setzen diese wirtschaftlich und bürokratisch noch mehr unter Druck und hoffen, daß die Hysterisierung der Gesellschaft von ihrer unsozialen Politik ablenkt. So kommt es zu einer weiteren Verschlechterung des Lebensstandards weiter Teile der Bevölkerung, worauf sich das Weltbild der Betroffenen und Verängstigten weiter radikalisiert, was wiederum zu einem verstärkten Zuspruch für die Rattenfängerparteien und ihre fünfte Kolonne in der sogenannten bürgerlichen Mitte führt – wie wir gerade an der ÖVP sehen können, deren Zerreißprozeß fortschreitet. Ein Teufelskreis, der mit normalen demokratischen Mitteln nicht mehr zu durchbrechen ist, ebenso wie die Machtübernahme der FPÖ mit landläufigen Verfahren und Mitteln einer bürgerlichen Demokratie nicht mehr zu verhindern ist.«
»Man kann nicht sagen, daß Sie übermäßig viel Optimismus versprühen«, sagte der Dozent und folgte Groll zu einem Tischchen in einem Café der Fußgängerzone.
Herr Groll parkte seinen Rollstuhl so, daß er sowohl den Eingang als auch die vorübereilenden Passanten im Blick hatte. »Jetzt, da mit Fidel Castro meine größte amerikanische Hoffnung abgetreten ist, werde ich den Kampf gegen eine »Neue große Zeit« zwar nicht aufgeben, über dessen Erfolgsaussichten mache ich mir aber keine Illusionen. Wollen Sie mich auf ein tramezzini con gamberetti und einen Campari einladen?«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte der Dozent. »Darf ich mich anschließen, sagen wir mit einer brioche con il tuppo und einem Fernet Branca?«
Er würde sich glücklich schätzen, erwiderte Groll.