Nach der Kapitulation

Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Link über die Versenkung Griechenlands, Geschichtsverbote und die Normalisierung extremer Parteien.

Jürgen Link, emiritierter Professor für Literaturwissenschaften an der TU Dortmund, hat nicht nur einen Versuch über den Normalismus vorgelegt, sondern auch den experimentellen Roman Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung. Er gibt die Zeitschrift kultuRRevolution heraus und kommentiert auf seinem Blog bangemachen.com aktuelle Entwicklungen.

Neuner: Dein jüngstes Buch Anteil der Kultur an der Versenkung Griechenlands bringt im Untertitel auf provokante Weise die Namen Hölderlin und Schäuble zusammen. Wie kann uns Hölderlin-Lektüre bei der Analyse der deutschen Griechenland-Politik helfen?

Link: Der Konflikt zwischen der deutschen Regierung, die auch in Brüssel hegemonial ist, und der griechischen Seite, und zwar von Beginn der Krise 2009 an, war gekennzeichnet durch eine Art »Geschichtsverbot«. Das erwies sich besonders in den geradezu hysterischen Aufschreien des hegemonialen mediopolitischen Diskurses in Deutschland, sobald an die Schuld, aber auch an die Schulden, gegenüber dem von Hitler besetzten Griechenland erinnert wurde. Es war, als ob die deutsch-griechischen Beziehungen erst 2009 oder 2010 begonnen hätten. Wenn an das Londoner Schuldenabkommen von 1952 erinnert wurde, in dem die noch vom 1. Weltkrieg datierenden deutschen Schulden größtenteils erlassen wurden – oder wenn gar erwähnt wurde, dass Deutschland durch das 2+4-Abkommen jede Kriegsentschädigung für den 2. Weltkrieg einfach weggetrickst hatte, erfolgte nach kurzem Aufheulen Funkstille. Es hieß: Alles ist international geregelt, das »Thema existiert nicht mehr«. Die griechischen Schulden sind etwas ganz anderes, die verstoßen gegen die heutige »europäische Hausordnung«. Diese Art Geschichtsverbot entsprach auch einer weit verbreiteten pseudolinken Mentalität, die um die Formel kreist, wir lebten (»gottseidank!«) in einer post-nationalen Epoche, und man solle um Gotteswillen nicht wieder in den alten »Nationalcharakteren« und nationalen Mythen herumrühren, wir dürften die griechische Misswirtschaft nicht mit der deutschen Geschichte entschuldigen oder gar entschulden.
Der Fall Griechenland ist deshalb so exemplarisch, weil dieses Land überhaupt erst so etwas wie eine europäische »Leitkultur« geschaffen hat. Das habe ich in meinem Bändchen in Form einer Satire auf den Punkt gebracht: Dort sollen deutsche Politiker für die Benutzung griechischer Wörter eine Lizenzgebühr in einen »Rettungsschirm« einzahlen, und ich stelle Frau Merkel happige Rechnungen aus. Auch Herr Schäuble müsste schwer »bluten«. Nun kann man sagen: Das ist Altgriechenland, und das »klientelistische« Neugriechenland hat damit nichts zu tun. Wieder ein Fall von Geschichtsverbot, und da bin ich bei Hölderlin. Denn der interessierte sich keineswegs nur für Alt-, sondern intensiv auch für Neugriechenland. Der Protagonist seines Romans Hyperion ist ein neugriechischer Revolutionär, dessen Aufstand scheitert, der als »Asylant« nach Deutschland fliehen muss, der den deutschen »Nationalcharakter« erlebt und in einer harten Polemik kritisiert und der es schließlich vorzieht, lieber in seiner Heimat im Untergrund und Lebensgefahr zu existieren als in Deutschland. Übrigens hätte Schäuble persönlich mir ein tolles Motto geliefert, das leider zu spät kam: In seinem Gespräch mit Jauch in dessen letzter Politshow Ende 2015 sagte er bezüglich der Krise: »Mein schwäbischer Landsmann Hölderlin hat gesagt: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. – Aber deshalb muss man ja nicht gleich verrückt werden.« Kommentar überflüssig – der Sprecher brach sein Geschichtsverbot übrigens ausschließlich, um mit seiner Halbbildung anzugeben.
Ich versuche in meinem Buch eine Lektüre von »Patmos«, aus dem der Vers stammt, und zeige die Relevanz eines von Hölderlin radikal umgedeuteten, »griechischen« Jesus –wiederum für die Moderne, für uns. – Hyperion wurde 1822 im Zuge der deutschen philhellenischen Bewegung neu aufgelegt und spielte darin eine wichtige Rolle. Der deutsche Philhellenismus beruht auf der Einsicht, dass es eine teilweise Kontinuität zwischen Alt- und Neugriechenland gibt und dass die deutsche Kultur in einer unlöslichen Symbiose mit beiden existiert. Schäubles und Merkels Politik der »Versenkung« Griechenlands, wie ich sage, muss als Todsünde gegen den deutschen Philhellenismus betrachtet werden. Es ist unfassbar, dass ein ganzes Drittel des griechischen Volkes ohne medizinische Versorgung und an der Nahrungsgrenze leben muss, nur weil die deutschen Finanzeliten und ihre politischen Vollstrecker sich weigern, »nicht tragfähige« Schulden zu streichen, aus denen aber auf ewig enorme Zinsen zu zahlen sind, die jede Sozialpolitik in Griechenland auf Jahrzehnte unmöglich machen. Ein Deutscher oder eine Deutsche, die Hölderlins »Deutschenschelte« gelesen haben, werden den aktuellen deutsch-griechischen Konflikt mit sehr anderen, historisch informierten Augen sehen.

Neuner: Das erste Halbjahr 2015 war geprägt von der Aufregung über die unbotmäßige griechische Regierung mit ihrem Kurzzeit-Finanzminister Varoufakis, ab dem Spätsommer dominierte dann die sogenannte Flüchtlingskrise die Berichterstattung in Österreich und Deutschland. Wie hängen diese beiden Themen zusammen?

Link: In der Tat war die erste Jahreshälfte 2015, vor der Kapitulation des Alexis Tsipras gegenüber der Erpressung mit dem Grexit durch Berlin und Brüssel in der langen Nacht von 12. auf den 13. Juli, durch ein einmaliges fast tägliches mediales Trommelfeuer gekennzeichnet. In sorgfältigen Diskursanalysen, die im Schwerpunktheft »Hellas im medialen Zyklopenblick« der Zeitschrift kultuRRevolution nachgelesen werden können, wurde die zyklopische Einäugigkeit dieses Trommelfeuers belegt. Man muss sich vorstellen, dass in diesem halben Jahr allein 74 TV-Talkshows auf die Regierung Tsipras I –Varoufakis eindroschen. In sieben davon wurde Varoufakis als »Zocker« und »Pokerer« vorgeführt. Wie kamen die Showmaster darauf? Sie hatten das »Zocken« in der Finanzkrise gelernt, in der die Banker »gezockt« hatten – und jetzt waren die Griechen, die von den Bankern einen Schuldenschnitt forderten, selber die »Zocker«! Die Böcke wurden zu Gärtnern gemacht und die Gärtner zu Böcken. Auch im Rest dieser Shows, ebenso wie in den Printmedien zwischen BILD und FAZ, erschien Varoufakis als »Raffke« (woher stammte das »raffende Kapital«? Sie wissen es nicht: Geschichtsverbot!) und fragte BILD: »Der Russe oder der Grieche: Wer ist gefährlicher für uns?« (Fotos von Putin und Tsipras). Und nach der Kapitulation im Juli wurde dann tatsächlich von heute auf morgen das »Thema« Griechenland »abgehakt«: Der neue Tsipras II war ja einfach eine Fortsetzung von Samaras und erfüllte »normal« die Vorgaben aus Brüssel, das war »kein Thema« mehr. Kurz danach kam dann das »Thema« Flüchtlinge. Wie aus heiterem Himmel stellten die deutschen Medien plötzlich im August und September einen »Tsunami« von Flüchtlingen auf der »Balkanroute« fest. Die große Frage lautet also: Warum war die Flucht über die Balkanroute in der ersten Jahreshälfte 2015, als sie sich entwickelte und bereits in die Hunderttausende ging, »kein Thema«? Man stelle sich vor, Merkel hätte gleichzeitig mit den Verhandlungen mit Tsipras I und Varoufakis in Brüssel bereits mit Erdogan über einen »Flüchtlingsdeal« verhandelt, der ja Griechenland als Dritten direkt betraf? Wäre dann das Prinzip »keinen Cent Schuldenerlass für die Pleitegriechen« auch nur einen Tag länger durchzuhalten gewesen? Eine wesentliche Ursache für den »aufgelaufenen Stau« war also die Berliner Entscheidung, die Massenflucht erst dann zum Thema zu machen, wenn Tsipras kapituliert hätte.

Neuner: Du hast, noch im griechischen Wahlkampf Anfang 2015, einen Appell »für eine faire Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland« gestartet. Das mindeste, was man aus heutiger Sicht sagen kann, ist, dass sich in den sogenannten Leitmedien niemand um Fairness bemüht hat.

Link: Das Ziel des Appells war im Grunde, die Stimmen eines Bundes zwischen direkt betroffenen Deutschgriechen (es sind zwischen 300.000 und 400.000 griechische Einwanderer) und »altdeutschen« Philhelleninnen hörbar zu machen. Ein wesentlicher Punkt dabei war die Einbeziehung der deutsch-griechischen historischen Dimension, bis hin zu Hölderlin. Ein wesentliches Argument war vor allem die Analogie zwischen der Sparpolitik von Brüning, die zur Verelendung in Deutschland vor 1933 und zur Machtergreifung Hitlers führte, und der Griechenland diktierten Sparpolitik, die zu noch höherer Arbeitslosigkeit geführt hat als selbst unter Brüning. Brüning war Christdemokrat wie seine Enkel Schäuble und Merkel. Das Gewicht des Appells wuchs während des Halbjahres der Verhandlungen stetig an, Internetmedien zitierten ihn und beinahe hätte sogar ZEITonline ein bereits fertiges Interview gebracht, das allerdings »von oben« gestoppt wurde (dokumentiert in meinem Buch). Ich vermute, dass das Brüning-Argument ausschlaggebend war, das ja dem gesamten mediopolitischen Trommelfeuer die Trommel gründlich kaputt macht. Die Wirkung des Appells hätte meines Erachtens dennoch weiter wachsen können – es wurde ihr durch die Kapitulation von Tsipras I natürlich der Boden entzogen.

Neuner: Jetzt könnte man sich angesichts des Rechtsrucks in beinahe ganz Europa fragen, warum die selbsternannten Brüsseler Eliten mit Denormalisierungstendenzen von rechts weniger Probleme haben als mit solchen von links, warum sie – zurecht oder nicht? – zu glauben scheinen, FPÖ, AfD, FN und Consorten ließen sich leichter »normalisieren«.

Link: Das sehe ich nicht so. Berlin und Brüssel haben mit dem sogenannten Rechtpopulismus ebenfalls erhebliche Probleme. Man muss dazu einen Blick auf das normalistische Funktionieren der Demokratie werfen, die man als Normaldemokratie bezeichnen kann. Sie funktoniert nach dem Schema Links-Rechts-Mitte-Extreme. Idealerweise sollen wir so wählen, dass eine linke plus rechte »Mitte« bis zu zwei Drittel der Sitze bekommt, und dass die »Extreme« auf beiden Seiten unter 5 Prozent bleiben (deshalb in Deutschland die 5-Prozent-Klausel). Wenn nun die »Mitte« abschmilzt und die »Extreme« wachsen (U-Form), herrscht politische Denormalisierung. Man bemüht sich dann, zum Beispiel mittels eines »Fundi-Realo-Spiels« wie bei den Grünen, um Normalsierung einer zunächst »extremen« Partei. 2000 wurde Haider von Frankreich zuerst noch als »extrem« codiert, von Deutschland von Anfang an als »populistisch«. Mit dem »Populismus« wurde eine neue Größe ins Spektrum eingebaut, die sozusagen auf der Normalitätsgrenze wackeln kann: Man kann sie reinholen oder raushalten. »Extrem« ist jeder Antagonismus zur Hegemonie aus NATO, Großkapital, Großmedien, Kirchen, Gewerkschaften und Normalparteien. Marine Le Pen in Frankreich will aus dem Euro und der EU austreten und die Masseneinwanderung umdrehen. Das ist antagonistisch und kann kaum so einfach normalisiert werden wie Tsipras I zu Tsipras II.

Neuner: Das größte Problem scheinen für EU-Europa demokratische Elemente zu sein. Sobald irgendwo das Volk »falsch« abstimmt, wie in Griechenland und Großbritannien, oder ein Parlament wie das der Wallonie nicht den Vorgaben aus Brüssel folgt, macht sich Empörung breit und wird laut darüber nachgedacht, wie diese Entscheidungen ausgehebelt werden könnten – Demokratie als größte Bedrohung der Normalität?

Link: Ja sicher, das ergibt sich aus der Tendenz zur Krise der Normaldemokratie, die ich eben beschrieben habe. Je weniger glatt sie funktioniert, umso größer wird die Versuchung für die »Entscheidungseliten«, sogar die Normaldemokratie einzuschränken in Richtung eines notständischen Ermächtigungsregimes. In der Weimarer Republik konnte man sich dabei auf die Souveränität des Reichspräsidenten stützen (Carl Schmitt theoretisch und Brüning praktisch) – heute gibt es eine klare Tendenz, dazu die EU-Bürokratie zu benutzen. So wollte Schäubles rechte Hand Oettinger im Sommer 2015 den Notstand über Griechenland verhängen und einem EU-Kommissar große Teile der Regierungsgewalt übertragen. Oettinger wird jetzt Haushaltskommissar und Vizepräsident der EU.

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Jürgen Link: »Anteil der Kultur an der Versenkung Griechenlands. Von Hölderlins Deutschenschelte zu Schäubles Griechenschelte«
Königshausen & Neumann, Würzburg 2016

Zu der mearz_sprachkunst-Veranstaltung im Herbst war unter anderen Jürgen Link eingeladen. Im Heft 9 der Idiome sind ebenfalls Texte von Jürgen Link abgedruckt. Über die Galerie MAERZ erhältlich.

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