Die U-Boot-Waffe, die »Schönbrunn« und die Präsidentenwahl

Eine Groll-Geschichte von Erwin Riess.

Der Dozent traf seinen Freund auf einem Donauweg. Groll war gerade dabei, eine Schnur beim Aufgang eines mächtigen Windrads anzubringen. An der Schnur baumelten bunte Fähnchen.
»Sie feiern die Wiederwahl des Bundespäsidenten! Diesen Patriotismus hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Guten Tag, geschätzter Groll!«
Der Dozent war von seiner italienischen Rennmaschine abgestiegen, lehnte sie an den Handlauf, der den Sockel des Windrads umgab und hockte sich neben Groll auf die Fersen.
»Ich habe damit gerechnet, Sie auf hier anzutreffen und grüße Sie, verehrter Herr Dozent«, sagte Groll.
»Warum so förmlich? Jetzt kennen wir uns schon viele Jahre, haben so manches Abenteuer und einige Katastrophen gemeinsam durchgestanden, da könnte man doch einmal daran denken, das Du-Wort auszutauschen.«
Man solle da nichts übereilen, erwiderte Groll. Mit dem Du-Wort habe es eine seltsame Bewandtnis. Innerhalb gleichartiger sozialer Milieus erleichtere es die Verständigung, werde es jedoch zwischen einem Vertreter der niederen Stände aus Floridsdorf mit einem Sproß aus Hietzinger Fabrikantenadel ausgetauscht, gebiete die mitteleuropäische Geschichte größte Vorsicht.
»Sie argumentieren ähnlich übervorsichtig und kryptisch wie der amtierende Präsident. Sie werden sich auf diese Weise nicht viele Freunde machen.«
»Auf diese Weise erzielte Heinz Fischer einen überragenden Wahlsieg«, entgegnete Groll und befestigte das letzte Fähnchen am Handlauf.
Das sei bei den übrigen Kandidaten nicht schwer gewesen, meinte der Dozent und konfrontierte Groll mit dem Wahlergebnis von Frau Rosenkranz in Floridsdorf, das deutlich über dem Bundesdurchschnitt liege.
Das gelte auch für Simmering und Favoriten, erwiderte Groll. Seit dem Auftreten Jörg Haiders sei in Arbeiterbezirken der Anteil extremer Kandidaten bei Wahlen traditionellerweise hoch. Den meisten Zuspruch habe Frau Rosenkranz allerdings in den ländlichen Teilen Kärntens – mit Ausnahme des zweisprachigen Unterkärntens – bekommen. Im Gurktal zum Beispiel seien Holocaust-Leugnung und nationalsozialistisches Weltbild mit einem Drittel der Stimmen belohnt worden.
»Ihre Art, das Ergebnis zu beschreiben, zeigt mir, daß Sie an Alternativen arbeiten«, sagte der Dozent. »Mir kommt ein fürchterlicher Gedanke!« Der Dozent erhob sich. »Sie träumen von einem Kandidaten der Restlinken!«
Groll senkte den Blick. »Ich gebe mich geschlagen. Sie haben recht. Ich träume von Hans Orsolics. Ein Anwohner des großen Stroms, ein Kind Kaisermühlens, ein ruhiger, besonnener Mann, der seine Argumente trefflich abwiegt, bevor er sie ins Gefecht schickt.«
»Ich dachte eher, es sei umgekehrt«, unterbrach der Dozent
»Ein ausgewiesener Kenner des Lebens, seiner Höhen und Tiefen, Europameister im Weltergewicht und Weltmeister im Umschiffen existenzieller Klippen, eine sportliche Legende gepaart mit reichem Erfahrungsschatz«, fuhr Groll unbeeindruckt fort. »Ruhige Bescheidenheit und eine durch nichts zu erschütternde menschliche Größe kennzeichnen seinen Charakter. Im In- und Ausland genießt Orsolics einen untadeligen Ruf, sein Ruhm drang über die Meere, noch heute existieren Fanclubs in Australien und in Oregon. Mit Hans Orsolics, einem elder statesman von echtem Schrot und Korn an der Spitze, wird sich der Wiederaufstieg der Linken vollziehen.« Grolls Blick war verklärt.
»Sie entwerfen ein Horrorszenario für die österreichische Demokratie!« rief der Dozent. »Fragen Sie Orsolics Schutzengel Sigi Bergmann. Wenn Hans Orsolics seine ganze Persönlichkeit in die Waagschale wirft, bleibt kein Auge trocken.«
»Das ist zu hoffen«, sagte Groll. »Unser Kandidat wird dem formalen Amt die nötige inhaltliche Breite verleihen und blutleeren technischen Abläufen eine neue Sinnlichkeit einhauchen. Ich denke, daß er sich als erstes um die darniederliegende Donauschiffahrt kümmern muß.«
»Dann sind Ihre Fähnchen …«
»Nicht für Heinz Fischer.«
Der Dozent trat näher und betrachtete eingehend die Fähnchenparade, die auf Grolls Schnur hing. Nun wundere ihn nichts mehr, sagte er anschließend. Was ihn zu dieser Schlußfolgerung verleite, wollte Groll wissen.
Der Dozent holte ein Fähnchen zu sich heran.
»Das ist das Hoheitszeichen der k u k Marine. Wußten Sie das nicht?«
Groll schwieg.
»Und hier« – Der Dozent nahm ein anderes Fähnchen zur Hand – finden wir die Reichskriegsflagge der Deutschen Reichs. Sind Sie jetzt ins nazistische Fahrwasser abgeglitten? Halten Sie das Andenken an die deutsche U-Boot-Waffe hoch, die während des Zweiten Weltkriegs Tausende zivile Schiffe mit Zehntausenden Mann Besatzung versenkt hat? Das Andenken an die Torpedierungen von Kreuzfahrtschiffen mit deutschen Flüchtlingen? Oder die Versenkung von Schiffen wie die »Serpa Pinto«, die jüdische Flüchtlinge von Lissabon über den Atlantik brachte? Das Andenken an die Wolfsrudel genannten Zusammenrottungen der deutschen U-Boote, welche gemeinschaftlich auf die Jagd nach Schiffskonvois gingen, die von den USA nach England geschickt wurden, um die Briten in ihrer Schlacht gegen die Deutschen zu unterstützen!? Eine teuflische Strategie, die erst abgewendet werden konnte, als die Engländer es schafften, den Funkcode der deutschen U-Boote zu knacken. In dem famosen Roman »Enigma« von Robert Harris wird dieses Unterfangen beschrieben. Es waren junge mathematische Genies, die aus Oxford und Cambridge zusammengefangen und in das Dechiffrierungscamp Bletchley Park nahe London gesteckt wurden, um den Code der deutschen U-Boote zu knacken. Das Überleben der britischen Nation hing von einer kleinen Gruppe exaltierter, teils snobistischer, teils ganz einfach nur durchgeknallter Jünglinge ab, die sich mit allerlei Drogen und Unmengen von Alkohol wach hielten, um an der Dechiffrierung des deutschen ENIGMA-Codes zu arbeiten – und schließlich erfolgreich waren. Der Schrecken der Massentorpedierungen war gebrochen. Unter den jungen Mathematikern befanden sich übrigens einige Polen und erstaunlich viele Kommunisten. Gerade an den Nobelcolleges sympathisierten damals viele Studenten mit dem Kommunismus und nicht wenige waren im Geheimen auch Mitglieder der Partei – unter ihnen Kim Philby, der später den Sowjets wichtige Unterlagen über die britische Atombombe verschaffte, mit einer Wienerin verheiratet war und als legendärer Meisterspion in den achtziger Jahren hochbetagt als Oberst der Roten Armee in Moskau starb. Unter den amerikanischen Soldaten, die im Bauch der stählernen »Liberty-Schiffe« von Norfolk, Virginia nach Nordengland fuhren und den deutschen U-Booten hilflos ausgeliefert waren, befand sich im übrigen auch der legendäre Folksänger Woody Guthrie. Wäre er im Atlantik versunken, hätte es nie einen Bob Dylan gegeben! Sie gedenken den Feinden der Zivilisation, ihren Opfern oder der US Navy aber gedenken Sie nicht!«
Der Dozent hatte sich in Rage geredet. Groll hob abwehrend die Hände.
»Entschuldigung Euer Ehren!« rief er. »Sie sehen mich erschüttert und zerknirscht. Ich habe die Fähnchen von einem Heurigengast beim Binder-Heurigen in Bausch und Bogen um einen Bettel erstanden, der Mann verkaufte seine Erinnerungsstücke, weil er am nächsten Tag zu einer gefährlichen Operation im Floridsdorfer Spital antreten mußte, die Entfernung eines eingewachsenen Nagels. Ich habe dem Mann seine Fähnchen abgekauft, um ihm zu etwas Geld zu verhelfen, er rechnete nämlich damit, viele Wochen im Spital zu verbringen. Für die Finanzierung der Weingrundversorgung im Krankenhaus reichte seine Rente nicht.«
Wegen eines eingewachsenen Zehennagels liege man nicht mehrere Wochen im Spital, erwiderte der Dozent.
»In Floridsdorf schon«, widersprach Groll. »Vor allem, wenn sich bei den Untersuchungen herausstellt, daß man an einem Herzschaden, einer Krebserkrankung der Prostata und einer fortgeschrittenen Leberzirrhose leidet.«
Der Dozent gab sich mit der Antwort nur halb zufrieden.
»Manchmal habe ich den Verdacht, daß Sie neben den Schuhen stehen. Geistig, meine ich.«
Er stehe nicht neben den Schuhen, sondern sitze in Sandalen in seinem schnellaufenden Rollstuhl Joseph. Die Fähnchen sollten einem wunderbaren Schiff gelten, das demnächst an ihnen vorbeirauschen sollte. Die 1912 erbaute »Schönbrunn«, die große alte Dame der Donauwellen, die in jahrelanger Arbeit in der Linzer Schiffswerft restauriert worden sei.
»Seit nahezu 100 Jahren pflügt die Serenissima der europäischen Binnenschiffahrt die Donauwellen, nach Jahren des Rostens und Rastens eilt sie wieder nach Pannonien, wo sie einst auf der großen Budaer Schiffswerft das Licht der Welt erblickte. Sie müßte demnächst hier durchkommen. Ich werde sie begleiten und mit Hochrufen in die Kraftwerksschleuse führen.« Mit diesen Worten riß er die Schnur mit den Fähnchen vom Handlauf und stopfte sie in einen Mülleimer. Kopfschüttelnd stieg der Dozent aufs Rad. Er befestigte die Fußschlaufen und fuhr Groll hinterher. Am Horizont zeichnete sich der elegante weiße Leib eines Schaufelraddampfers ab.

Erwähnte Bücher:
John Banville »Der Unberührbare« (560 Seiten, Kiepenheuer & Witsch 1997), Robert Harris »Enigma« (440 Seiten, Heyne 1995, verfilmt 2001 mit Dougray Scott und Kate Winslet, Drehbuch von Tom Stoppard), Rosine de Dijn »Das Schicksalsschiff« (220 Seiten, Deutsche Verlagsanstalt 2009)

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