Herr Groll ist solidarisch und kocht eine Fischsuppe

Eine Geschichte aus dem besetzten Auditorium Maximum an der Universität Wien von Erwin Riess.

 

Ist ein Volk in Ruhe, glaubt man nicht,
daß es je in Bewegung gerät.
Ist ein Volk einmal in Bewegung,
glaubt man nicht, daß es je zur Ruhe kommt.

La Bruyère
 

Auf dem Gang vor dem Auditorium Maximum herrschte reger Betrieb. Studenten strömten aus dem Hörsaal, man hörte Pfiffe und lautes Klatschen, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Junge Leute bildeten auf dem Gang kleine Gruppen, in denen die Ergebnisse der Plenarbera-tungen diskutiert wurden. Die Besetzung des großen Hörsaals ging in die vierte Woche. Das Medieninteresse war enorm; ausländische Zeitungen und Fernsehstationen berichteten laufend über den Aufstand der Wiener Studenten. Zwar wohnte Groll im nördlich der Donau gelegenen Arbeiterbezirk Floridsdorf, was im Audi Max geschah, verfolgte er dennoch mit großer Sympathie. Als er eine Liste mit den Forderungen der Studenten in die Hand bekam, stand sein Entschluß fest: Er würde die gerechte Sache mit einer Geste der Solidarität unterstützen. Er kochte einen großen Topf Fischsuppe, ließ sich von einem befreundeten Weinhauer mit dem Traktor zur Uni chauffieren und baute vor dem Audi Max einen Stand auf, wo er die Fischsuppe gegen einen Solidaritätsbeitrag feilbot.
Fünf Portionen Suppe hatte Groll bereits ausgeschenkt, da verweigerte er dem sechsten Interessenten die Schüssel. Auch der Dozent, Grolls Bekannter aus dem noblen Hietzing, Millionenerbe und Privatgelehrter der Soziologie, begehrte einen Teller Solidaritätssuppe. Er sei weder Student noch Besetzer, erklärte Groll, er solle sich seinen Wanst gefälligst in Millionärsausspeisungen vollschlagen. Er, Groll, habe gehört, daß es in Hietzing Massenausspeisungen für bankrotte Millionäre gebe, die in vermeintlich mündelsichere Aktien österreichischer Unternehmerdynastien investiert und damit Totalverluste realisiert hätten.
»In den Ausspeisungen, die von Caritas und ‘Licht ins Dunkel’ betrieben werden, kommen mit Trüffeln und Kaviar gefüllte Erdäpfel sowie mit San Daniele Schinken gespickte Knackwürste auf die Teller«, sagte Groll.
»Was für ein haarsträubender Unsinn«, erwiderte der Dozent.
Ähnlichen Unsinn würden die Studenten im Audi Max verzapfen. Wer illusorische Forderungen aufstelle und diese noch mit dem Zusatz, sie seien nicht verhandelbar, versehe, sei nicht ernst zu nehmen. Auch daß die Besetzer jede Kleinigkeit im Kollektiv besprächen und keine gewählten Führer hervorbrächten, sei ein Bruch mit den politischen Gepflogenheiten.
»Da mag ich Ihnen nicht widersprechen«, sagte Groll. »Die Räteherrschaft stellt in der Tat einen Bruch mit der bürgerlichen Formaldemokratie dar. Und die Forderung nach einem augenblicklichen Ende von Ausbeutung und Rassismus ist nicht verhandelbar, sie ist ohne Einschränkung zu verwirklichen. Auch eine weitere Forderung der Studenten, die seit ewigen Zeiten versprochene Sanierung der universitären Baulichkeiten hinsichtlich Barrierefreiheit, ist nicht verhandelbar. Die Studenten fordern nur das Naheliegende, Vernünftige, sie fordern nur das Mittlere.«
»Oder das Einfache, das schwer zu machen ist. Danke, ich habe meinen Brecht auch gelesen«, erwiderte der Dozent. »Wenn Sie mir schon die Suppe verweigern, weil ich in Ihren Augen ein Kuponschneider und Schöngeist bin, dann sagen Sie mir wenigstens, was mit dem von Ihnen verdienten Geld geschieht.«
»Wie Sie wollen«, sagte Groll und schenkte eine weitere Suppe aus.
Sie ging an ein bleichgesichtiges Mädchen mit traurigen Augen.
»Siebzig Prozent kommen den Studenten unmittelbar zugute.«
»Und der Rest?«
»Fünf Cent kommen in einen Fonds, der den Ankauf von Kondomen finanziert. Sie dürfen nicht vergessen, daß viele der Besetzer Tag und Nacht hier sind, da dürfen die menschlichen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen. Wer nicht ausgiebig und gut vögelt, hält nicht einmal eine Aufwallung, geschweige denn eine Revolte durch.«
»Wilhelm Reich!« rief der Dozent.
»Wenzel Schebesta, Platzwart des FC Wien – Nord«, entgegnete Groll.
»Damit haben Sie die Verwendung von fünfundsiebzig Prozent geklärt. Was ist mit dem Rest, was geschieht mit den restlichen fünfundzwanzig Cent?«
Groll rührte die Suppe mit einer PKW Antenne um. Er hatte sie vor der Universität von einem Polizei-Mercedes gepflückt.
»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen«, sagte er. Wie jede ordentliche Aufstandsbewegung verfügten auch die Wiener Herbstrebellen, die von Veteranen früherer Klassenkämpfe auch die »Neuner Kavallerie« genannt wurden, weil sie es verstanden, in kurzer Zeit neuralgische Punkte der Stadt zu besetzen, über einen militärischen Arm. Von der Bühne des Burgtheaters (standing ovations und Buhrufe des Publikums) über das Wissenschaftsministerium (die Studenten verirrten sich in dem barocken Gemäuer und besetzten irrtümlich das Unterrichtsministerium) reichten die Orte des öffentlichen Ungehorsams bis zum Märzpark, der seinen Namen zum Gedenken an die proletarisierten Studenten des März 1848 trug. Im Oktober desselben Jahres wurden zweitausend Revolutionäre, unter ihnen Hunderte studentische Paupers, die mit den Erdarbeitern der Vorstädte gemeinsame Sache machten, von der kaiserlich-kroatischen Soldateska hingemetzelt. Deren Führung oblag dem Banus Jelacic, einem Blutsäufer, der im heutigen Kroatien als Volksheld verehrt wird.
Undenkbar, daß Groll dem Dozenten in die Verwendung des Restbetrages einweihte. Die fünfundzwanzig Cent waren nämlich für einen Geheimfonds bestimmt, aus dem der Ankauf zweckdienlicher Mittel für den Fall einer gewaltsamen Räumung des Hörsaals finanziert wurde. Auch bei Straßenkämpfen würden die »Audimaxisten« (so wurden die Rebellen von der bürgerlichen Presse tituliert) sich zu wehren wissen. Jedenfalls sollte an den erforderlichen Werkzeugen kein Mangel herrschen.
Ob Groll denn wisse, was das Plenum eben zuvor beschlossen habe, fragte nun der Dozent.
Groll schüttelte den Kopf.
»Dann hören Sie jetzt gut zu: Das Plenum beschloß eine Grußadresse an Michail Kalaschnikow zu dessen neunzigstem Geburtstag. Die Besetzer des Audi Max grüßen den Konstrukteur des weltweit meist verbreitetsten Sturmgewehrs!«
»Meines Wissens haben die Studenten nie gesagt, daß sie Pazifisten sind«, entgegnete Groll. »Die jungen Leute sind Realisten. Man hat sie dazu erzogen, man soll ihnen ihre Erziehung nicht vorwerfen.«
»Aber sie wurden doch nicht zum Kriegführen erzogen!«
»Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie eine Ahnung, was sich in den österreichischen Schulen abspielt? Soll ich Ihnen erzählen, mit welch militärisch-nationalistischem Drill in Kärnten Volksschulen geführt werden?«
Der Dozent mußte einer Gruppe hungriger Besetzer den Vortritt lassen. Er kam aber später wieder und berichtete, daß eben Solidaritätsadressen aus zwölf deutschen Universitäten und streikenden Werftarbeitern aus Santander eingelangt seien. Nachdem Groll dem Dozenten eine Solidaritätsspende von zehn Euro abgetrotzt hatte, setzte er den Ausschank der Fischsuppe fort. Über deren Qualität waren die Studenten voll des Lobes. Nicht nur, daß sie mit drei Sorten Fisch – Zander, Hecht und Karpfen – aufwarten konnte; sie war auch so scharf, daß sie kompromißlerische und defätistische Haltungen für Wochen vertrieb.

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