»Animal Farm« als schlechte Stalinismuskritik
Das Buch »Animal Farm« von George Orwell und insbesondere seine Verfilmung aus den 1950er Jahren gelten in Deutschland und Österreich nach wie vor als vorzügliche pädagogische Mittel, um Lernenden etwas über totale Herrschaft und Diktatur beizubringen. Nachstehend einige fragmentarische Gedanken zum Aufklärungspotential dieses Klassikers.
1.
»Stalinismus« war lange Zeit ein Schlagwort im Kalten Krieg der bürgerlichen Ideologen mit dem autoritären Staatssozialismus, welches dem Antikommunismus einen moralischen Anstrich verlieh. In den postnazistischen Gesellschaften Österreich und Deutschland war der Haß auf den Stalinismus auch eine Form des Anti-Antifaschismus. An Stalin haßte man nicht seinen Verrat an der Revolution, sondern seine Rolle im »Großen Vaterländischen Krieg«, also seinen Beitrag zur Niederringung des Nationalsozialismus. Um von den über 20 Millionen von Deutschen und Österreichern ermordeten Sowjetbürgern nicht reden zu müssen, sprach man vom totalitären System des Stalinismus, das dem Nationalsozialismus eng verwandt sei. Die bürgerliche Totalitarismustheorie, über deren Horizont auch George Orwell mit seinen Vorstellungen von einem »demokratischen Sozialismus« nur selten hinauszublicken vermochte, müsste vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Sozialistische und kommunistische Bestrebungen tendieren gerade dann zur totalen Herrschaft, wenn sie Vergesellschaftungsformen wie Staat, Nation und Wert adaptieren, wie es im Ostblock etwa im Gerede von der »sozialistischen Warenproduktion« und der »planmäßigen Anwendung des Wertgesetzes« zum Ausdruck kam. Mit der Übernahme des wertverwertungsimmanenten Produktivitätsideals hat der Sozialismus sich die Vorstellung vom Schaffenden einerseits und dieses Schaffen torpedierenden zersetzenden Kräften andererseits zu eigen gemacht – und damit den Antisemitismus geradezu abonniert. Dieser Antisemitismus resultiert aber nicht aus der Kritik im Marxschen Sinne, sondern gerade aus der Ignoranz gegenüber dieser Kritik. Die Linken tendieren nicht deswegen zum Antisemitismus, und sie begegnen Israel nicht deswegen mit Haß, Mißtrauen oder Indifferenz, weil sie zu radikal wären, sondern weil sie zu wenig radikal sind.
2.
In der Stalinismuskritik des Filmes Animal Farm, der in den 1950er Jahren zur gleichen Zeit entstand, als in Moskau die Ärzteprozesse stattfanden, bei denen sechs Juden und drei weitere Angeklagte unter anderem als »Agenten des Zionismus« unter Anklage standen, findet der Antisemitismus keinerlei Beachtung. Der Film Animal Farm von John Halas und Joy Batchelor ignoriert in seiner Stalinismuskritik nicht nur den Stellenwert des Antisemitismus in den realsozialistischen Gesellschaften. Der Film bleibt über weite Strecken selbst einer Denkart verhaftet, die nie und nimmer etwas zu Emanzipation und Aufklärung wird beitragen können. Es wird nicht einfach Herrschaft kritisiert, sondern die Herrschaft der dekadenten, in Luxus schwelgenden, trinkenden Führungselite wird im Namen des ehrlich arbeitenden, sich in Abstinenz übenden Volkes attackiert. Unterschwellig richtet sich die Kritik gegen den Luxus selbst, der doch das ganze Ziel einer ernsthaften emanzipativen Bestrebung sein müßte. Man stößt sich, ähnlich wie in den heutigen Bewegungen der Sozialneider, nicht daran, daß nicht alle gleichermaßen am Luxus partizipieren können, sondern daran, daß es nicht allen gleich schlecht geht. Und bei solch einer Denkfigur, welche die stalinistische Vergötterung der schaffenden Arbeit in die Kritik am Stalinismus übernimmt, ist es kein Wunder, daß das antisemitische Stereotyp zumindest in dezenter Ausprägung auch in der Verfilmung von Animal Farm nicht fehlt. Man denke nur an die Figur des Bempel, ein auf das Geld fixierter, sich nicht um die Allgemeinheit scherender Händler, der mit schlafwandlerischer Sicherheit mit einer Physiognomie ausgestattet wurde, wie sie Antisemiten für Juden reserviert haben.
3.
Der Stalinismus hat den Wunsch nach Befreiung von Ausbeutung und Herrschaft zu einer sonderbaren Vorstellung werden lassen. Das aber ist kein Grund, von der Kritik zu lassen. Auch der Film Animal Farm endet ja durchaus optimistisch, obwohl offen bleibt, ob das erneute Auflehnen der Unterdrückten gegen die im Schwein Napoleon verkörperte stalinistische Herrschaft am Ende des Films nun auf die tatsächliche Emanzipation zielt oder auf eine liberale, sozialstaatliche Demokratie. Das kann man sich aussuchen, was wohl einiges zum Erfolg dieses Films beigetragen hat. Den im Hintergrund agierenden Produzenten des Films ging es allerdings keineswegs um eine Verteidigung des Gedankens und der Möglichkeiten radikaler Gesellschaftskritik gegen den Stalinismus, sondern um ein Propagandainstrument im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, der in den 1950er Jahren auch ein Kampf gegen linksliberale Intellektuelle in den USA war. Nach Orwells Tod bemühte sich die CIA bei der Witwe um die Filmrechte für Animal Farm. Und Sonia Orwell trat die Rechte unter der Bedingung an den amerikanischen Geheimdienst ab, einmal Clark Gable treffen zu dürfen. Die CIA beauftragte den sowohl propaganda- als auch kunstfilmerprobten Produzenten Louis de Rochemont; und der engagierte, nicht zuletzt aus Mißtrauen gegenüber den sich im Visier des Kommunistenfressers McCarthy befindenden amerikanischen Filmschaffenden, das britische Paar John Halas und Joy Batchelor. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, ob das gegenüber der literarischen Vorlage geänderte Ende im Film dem Wunsch von Halas und Batchelor nach einem optimistischen Ausblick oder der Einflußnahme der CIA geschuldet ist. Bemerkenswert und ganz im Sinne der CIA ist jedenfalls, daß beim Filmende die Menschen, die das kapitalistische System repräsentieren, nicht mehr vorkommen. Orwell schließt in seiner literarischen Vorlage mit einer Kritik an den stalinistischen Schweinen, die von den kapitalistischen Menschen nicht mehr zu unterscheiden seien. Diese Ununterscheidbarkeit wird im Film nur mehr in einer kurzen Sequenz thematisiert, und der Aufstand findet dann nur mehr gegen den Stalinismus statt. Das sagte den US-amerikanischen Regierungsstellen so zu, daß sie den Film mittels der United States Information Agency auf der ganzen Welt verbreiten ließen.
4.
Der Stalinismusbegriff dient heute Trotzkisten, Leninisten und verwandten Sozialdemokraten zur Abgrenzung. Lenin und Trotzki auf der einen und Stalin auf der anderen Seite sollen das jeweils ganz Andere gewesen sein. Und selbstverständlich gibt es diese Unterschiede, auch und gerade, was den Antisemitismus angeht. Lenins Theorie, insbesondere seine Imperialismustheorie, weist zwar strukturelle Ähnlichkeiten zum antisemitischen Weltbild auf, aber – und das sollte man heutzutage durchaus hervorstreichen – keine inhaltlichen, was sich unter anderem in der leidenschaftlichen Agitation Lenins gegen den Antisemitismus der bäuerlichen Massen in Russland manifestierte. Stalin hingegen hat nicht nur in seinen Kampagnen gegen Kosmopolitismus und Zionismus den Antisemitismus als politisches Herrschaftsmittel eingesetzt, sondern war dem antisemitischen Wahn dermaßen verfallen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach kurz vor seinem Tode die Deportation aller sowjetischen Juden nach Sibirien plante. Doch bei allen offensichtlichen Unterschieden – für seine Kritik autoritärer Herrschaft hätte Orwell, der in seiner Buchvorlage die Russische Revolution bis 1924 durchgängig idealisiert, nicht der Erfahrungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg und der stalinistischen Sowjetunion bedurft. Ein Hinweis auf die bolschewistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstands als ein Beispiel von vielen für den Terror gegen die linke Opposition hätte vollauf gereicht.
5.
Der Stalinismus hat den Staatssozialismus für alle Zeiten diskreditiert, nicht aber eine auf allgemeine Emanzipation zielende Kritik, die auf die gesellschaftliche Herstellung der Möglichkeit individuellen Glücks als absoluten Gegensatz zum völkischen Identitätswahn abzielt. Wer heute noch an Gesellschaftskritik, die auf die Abschaffung von Ausbeutung und Herrschaft abzielt, festhält, muß sich Rechenschaft ablegen über die Möglichkeiten einer barbarischen Aufhebung der Gesellschaft, wie sie im Nationalsozialismus praktiziert wurde und heute beispielsweise im islamischen Djihadismus, bei allen offenkundigen Unterschieden dieser beiden Bewegungen, angestrebt wird. Diesbezüglich kann es nicht mehr um eine Kritik des Stalinismus à la Orwell gehen. Notwendig ist eine Kritik der heutigen Linken, die sich anschickt, in einem mal ideellen, mal aber auch ganz praktischen Bündnis mit Islamisten zur Vorhut eben solch einer barbarischen Aufhebung zu werden. Gesellschaftskritik hätte sich heute nicht in erster Linie über die Gefahren autoritärer Führerpersönlichkeiten bewußt zu sein, deren Kritik im Mittelpunkt von Animal Farm steht, sondern über die Gefahr eines spezifischen Antikapitalismus, der sich von Marx fast gar nichts, von der deutschen Ideologie aber fast alles zu eigen gemacht hat. Der realexistierenden Linken geht es heute in der überwiegenden Mehrheit nicht um individuelles Glück, sondern um Gemeinschaft. Und so übt sie auch keine Kritik, sondern hegt ihre Ressentiments, die durch einen Film wie Animal Farm eher bedient als destruiert werden. Diese Ressentiments richten sich gegen alles, was auch die Antisemiten hassen: gegen Urbanität, Zivilisation und Individualität, gegen Intellektualität, Abstraktheit und Künstlichkeit, gegen Liberalität, Ausschweifung und Freizügigkeit.
Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als wissenschaftlicher Berater für die Kampagne www.stopthebomb.net. Er ist Autor von »Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus« (ça ira 2007) und Mitherausgeber von »Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer« (Studienverlag 2008).