Augstein & der Antisemitismus
Der mittlerweile in den USA lebende liberale Journalist Hannes Stein hat ebenso lapidar wie richtig festgehalten: »Man kann Jakob Augstein nicht kritisieren, denn er ist unter aller Kritik.« Doch die Verteidigung des Spiegel-Kolumnisten und Freitag-Herausgebers gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus war in Deutschland nahezu einhellig: Vertreter der deutschen Linkspartei nahmen ihn ebenso in Schutz wie Vorstandsmitglieder der CDU. In der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung fantasierte man darüber, Kritiker Augsteins wie Henryk M. Broder ins Gefängnis zu stecken. Von der taz bis zur ZEIT (mit der rühmlichen Ausnahme des Mitherausgebers Josef Joffe, der konstatierte, es gelte heute als verwerflicher, »jemanden einen Antisemiten zu nennen, als einer zu sein«), von der Süddeutschen bis zur Frankfurter Allgemeinen – fast niemand setzte sich ernsthaft mit den durchaus begründeten Vorwürfen des renommierten, in Los Angeles ansässigen Simon Wiesenthal-Centers auseinander, das den Mitinhaber des Spiegel-Verlags auf Platz 9 der »2012 Top Ten antisemitischer/antiisraelischer Verunglimpfungen« gesetzt hatte.
Zum Elend der Augstein-Debatte lässt sich heute nicht mehr viel Neues sagen. Allerdings muss man vermuten, dass diese Diskussion womöglich den Auftakt für eine Entwicklung darstellt, an deren Ende die Rehabilitierung eines offenen Antisemitismus steht, der sich nicht mehr wie in den letzten Jahren glaubt, hinter dem Hass auf Israel verstecken zu können und verstecken zu müssen. Als Indiz dafür sei nur der Beitrag »Im Sprachkorsett« im Spiegel genannt, in dem Sätze, die bisher noch in jeder Antisemitismuserhebung als eindeutiger Beleg für eine manifeste antisemitische Einstellung gegolten haben, nun in Form von unschuldigen Fragen präsentiert werden: »Ist Antisemit, wer sagt, die Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland? Oder wer zustimmt, dass die Juden sich um niemanden als um sich und ihre Gruppe kümmerten?«
Vor diesem Hintergrund sei hier an ein paar grundsätzliche Dinge erinnert: Antisemitismus beginnt nicht erst dort, wo jemand über Zyklon B nachdenkt oder »Die Juden sind unser Unglück« herausposaunt. Der Antisemitismus richtet sich gleichermaßen gegen Zivilisation, Individualität und Abstraktheit wie gegen Urbanität, Intellektualität und Künstlichkeit. Er hasst Geld und Geist, er verabscheut Liberalität, Emanzipation und Selbstreflexion. Im Antizionismus und im Hass auf Israel finden eine Art geopolitischer Reproduktion und eine Ergänzung des klassischen Antisemitismus statt. Der Antisemitismus als quasi ökonomische Seite des Judenhasses konstruiert sich das Bild des geldgierigen Shylock-Juden und spaltet darin jene notwendigerweise zum Kapital gehörenden, aber als bedrohlich, unmoralisch, illegitim, volksfremd, zersetzend und zerstörend empfundenen Elemente des ökonomischen Prozesses ab. Dieses schon für den vormodernen Antisemitismus charakteristische Bild des raffgierigen Geldjuden wird in der antizionistischen Propaganda ergänzt durch das Bild des Rambo-Juden, dessen exemplarische Verkörperung der alles niedertrampelnde, angeblich auf völkische Homogenität und territoriale Expansion setzende israelische Soldat sein soll.
Seit Jahren findet eine von verschiedenen Seiten betriebene Delegitimierung des Zionismus statt, die einstweilen im politischen Mainstream noch als Kritik an der konsequenten Selbstverteidigung Israels daherkommt, während der Frontalangriff auf den jüdischen Staat in der Regel Islamisten, Nazis und – derzeit in Europa am publikumswirksamsten – vermeintlich radikalen Linken überlassen bleibt, von denen einige im vergangenen Jahr während der israelischen Militäraktion gegen die Hamas im Gaza-Streifen am Wiener Stephansplatz unter Allahu-akbar-Rufen erklärten: »Wir sind für ein Palästina, das frei von der Westbank bis zum Mittelmeer reicht« und für alle, die es immer noch nicht verstanden hatten, unter dem Gejohle mehrerer hundert Zuhörer nachsetzten: Man kämpfe dafür, dass »Israel ausgelöscht wird, zerschlagen wird«.
In den mittlerweile einigermaßen marginalisierten Ausprägungen eines dumpfen Antiimperialismus ist es weiterhin üblich, den jüdischen Staat als »künstliches Gebilde« zu attackieren, wobei sich die Frage aufdrängt, ob all die anderen Staaten dieser Welt dann »natürliche Gebilde« darstellen und also an Bäumen gewachsen sind. Ein Blick in die europäische Tagespresse, ganz egal ob linker oder rechter Provenienz, reicht, um Beispiele dafür zu finden, wie die israelische Armee regelmäßig mit dem Vorwurf der »Unverhältnismäßigkeit« bei der Reaktion auf Angriffe konfrontiert wird. Auch Augstein sprach davon, dass Israel seit Jahren seine Interessen »ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel« durchsetzen würde, worin sich eine völlige Ignoranz gegenüber den Bedingungen ausdrückt, unter denen Israel seit seiner Staatsgründung 1948 existieren und sich gegen seine Feinde zur Wehr setzen muss.
Der Antisemitismus – der auch schon bei den Nazis antizionistisch war, weshalb sich Führer der palästinensischen Nationalbewegung wie beispielsweise der wüst antisemitische Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini ganz offen mit dem Nationalsozialismus verbündet haben – hat zur Shoah geführt. Deutsche, Österreicher und ihre so genannten ‚Hilfsvölker’, also insbesondere jene Balten, Ukrainer, Weißrussen und Ungarn, die sich redlich bemüht haben, sich in das deutsch-österreichische Vernichtungswerk einzubringen, haben den Massenmord organisiert und durchgeführt. Alle anderen Staaten waren lange nicht willens oder fähig, die systematische Vernichtung zu verhindern. Die Gründung Israels, die, wie jede andere Staatsgründung dieser Welt auch, selbstverständlich auf Gewalt beruhte, war die zwingend notwendige und leider viel zu spät gezogene Konsequenz. Seit dem sah und sieht Israel sich nicht nur mit Vernichtungsfantasien, sondern, wie beispielsweise im Jom Kippur-Krieg von 1973, mit Vernichtungsversuchen konfrontiert. Dass diese bis heute nicht Realität geworden sind, verdankt sich einzig und allein der israelischen Staatsgewalt.
Der Philosoph und Gesellschaftskritiker Theodor W. Adorno hat in einem seiner Hauptwerke, der Negativen Dialektik, festgehalten, dass die deutsch-österreichische Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus den Menschen »im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen hat: alles Handeln und Denken so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« Um diesem kategorischen Imperativ gerecht zu werden, bedarf es einer Verteidigung des zionistischen Grundgedankens, der all die unterschiedlichen Ausprägungen und miteinander verfeindeten Richtungen des Zionismus eint: die Notwendigkeit der Etablierung und Aufrechterhaltung eines bewaffneten Kollektivs zum Zwecke der Selbstverteidigung gegen den Antisemitismus und der Verhinderung einer erneuten Vernichtung.
Der Einwand, es müsse aber doch wohl noch möglich sein, »Israelkritik« zu üben, das habe doch rein gar nichts mit Antisemitismus zu schaffen, existiert nicht erst seit der Diskussion über die antiisraelischen Invektiven Jakob Augsteins. Doch erstens sollte man bereits dem Begriff der »Israelkritik« gegenüber sehr skeptisch sein, der in der aktuellen Debatte permanent verwendet wird; immerhin spricht auch kein Mensch von »Spanienkritik«, von »Schwedenkritik« oder von »Japankritik«, wenn politische Entscheidungen angeprangert werden, die in Madrid, Stockholm oder Tokio getroffen wurden. Zweitens muss man sich fragen, warum heute Menschen ernsthaft behaupten, man dürfe Israel ja gar nicht mehr kritisieren, wo doch genau das die ganze Welt praktiziert, und zwar von links bis rechts, in liberalen Zeitungen ebenso wie in konservativen, in islamischen Publikationen ganz ähnlich wie in christlichen. Drittens muss man sich genau ansehen, was kritisiert wird, wenn in Deutschland oder Österreich eine Art ‚Menschenrecht auf Israelkritik’ eingeklagt wird: Man wird in sehr zahlreichen Fällen feststellen, dass Israel immer wieder für ein Verhalten attackiert wird, das bei jedem anderen Staat der Welt, wäre er in einer vergleichbaren Situation, als völlig nachvollziehbar und legitim gelten würde.
Natürlich muss und soll sich niemand blind machen für das konkrete Agieren der israelischen Armee oder für die zahlreichen innerisraelischen Widersprüche und gesellschaftlichen Probleme (für die sich jemand wie Augstein ganz offensichtlich nicht interessiert und von denen er keine Ahnung hat, ansonsten würde er beispielsweise niemals auf die Idee kommen, ultraorthodoxe Juden mit djihadistischen Massenmördern auf eine Stufe zu stellen); und es wäre naiv zu glauben, dass jenes, den israelischen Sicherheitskräften von den feindlichen Nachbarn aufgezwungene Vorgehen nie zu Übergriffen oder Fehlverhalten führen würde. Warum aber, um nur einen Aspekt herauszugreifen, werden solche – mal tatsächlichen, oft aber auch nur vermeintlichen – Übergriffe gerade von Leuten so aufgeregt skandalisiert, die in ihrem ganzen Leben noch nie auch nur ein Wort zum Beispiel über den Massenmord in Darfur oder über die Drangsalierung von Palästinensern und insbesondere Palästinenserinnen durch die Hamas verloren haben? Anders formuliert: Warum interessieren sich viele Deutsche und Österreicher nur dann für tote Araber, wenn sie glauben, dafür jüdische Israelis verantwortlich machen zu können?
Man kann all die Versäumnisse, die in Deutschland und Österreich bei der Aufarbeitung der Vergangenheit gemacht wurden, nicht einfach nachholen. Und schon gar nicht kann man gegenüber den Opfern der Shoah irgendetwas ‚wiedergutmachen’, wie das schreckliche deutsche Wort in diesem Zusammenhang heißt. Was man allerdings tun kann, ist dafür zu sorgen, dass sich etwas Ähnliches unter anderen Vorzeichen nicht noch einmal wiederholt. Ein, wenn auch kleiner Beitrag dazu ist es, sich beispielsweise klar gegen die deutsche und österreichische Unterstützung von Regimes wie dem iranischen zu stellen, dessen eliminatorischer Antizionismus keineswegs nur von Augstein nach Strich und Faden verharmlost wird, und jenen Ressentiments entgegen zu treten, die hierzulande dem israelischen Staat entgegengebracht werden, und die in der Debatte über die Auslassungen des Spiegel-Kolumnisten Anfang dieses Jahres nochmals in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen sind.