Untergangsriten

Zum Relativismusproblem nicht nur in der Ethnologie.

»We are living through the end of one world, and the birth of another.« (Marine Le Pen)

Bis heute gilt in Teilen der marxistischen Szene unbestimmt alles Rituelle, Traditionelle, Kollektive als »völkische Barbarei«, die der Kapitalismus historisch und aktuell an der Peripherie zu Recht liquidiere. In »einem Akt der Desperation« erwarten sie »das Heil vom Todfeind […], der als ‚Antithese‘, blind und mysteriös das gute Ende soll bereiten helfen.«1. Entbarbarisierung meinte bei Adorno die bestimmte Aufklärung gegen spezifische Rituale wie etwa die kultische Moralpolizei des »Haberfeldtreibens«. Ein ebenso bedeutendes Element der »Dialektik der Aufklärung« ist der Relativismus, mit dem überhistorisch Aufklärung vor ihrem liquidierenden Gestus gegenüber dem Animismus gerettet werden sollte, der sie zuletzt selbst erfasst.
Versuche, die Rituale anderer Menschen zu verstehen, finden sich seit der Antike und stets sind sie von einem dialektischen Wechsel zwischen Abgrenzung, Verachtung, Respekt und Sympathie geprägt. Jede Kolonisierung veränderte die Kolonisatoren, die Elemente der Besiegten integrierten, andere verwarfen. Die Entdeckung und Verwüstung der Gesellschaften der neuen Welt war Ausgangspunkt für die Krise des europäischen Feudalismus. Reiseberichte, Briefe und von Universalwissenschaftlern vorgenommene Studien stellten Stereotype in Frage und bereiteten den Boden für den Universalismus der Aufklärung: Die feudale Ordnung war nicht die einzig mögliche. Aufklärung hieß, Menschen als gleich geborene zu denken. Um 1900 war Ethnologie daher vor allem mit der Kategorisierung und Differenzierung weltweit ähnlichen rituellen Ausdrucksformen der Art »Homo sapiens« befasst. James Georg Frazer suchte in seiner Ritualsammlung »The Golden Bough« das Rätsel des Fortschritts in der Ideengeschichte zu beantworten: Aus den Enttäuschungen der Magie entstand Religion und aus deren Unvermögen letztlich die Wissenschaft. Frazer erwägt ohne jeden Optimismus die Möglichkeit einer künftigen, noch unbekannten Denkform. Den 1914 eingeleiteten Untergang der Zivilisation sieht er voraus als »dunkle Wolken«, die den Blick in die Zukunft versperrten. Das Entwicklungspro-blem war auch für zeitgenössische ethnologische Theoretiker lebendig, gerade weil sie in der zeitgenössischen Haltung der Moderne zu den »Wilden« insbesondere in den Indianerkriegen der USA die Dialektik der Aufklärung spürten. Der Kulturrelativismus arbeitete noch primär gegen die Hybris des Westens an, nicht gegen sein Glücksversprechen. Erst mit Evans-Pritchard setzt ab 1937 die wirksame Reinigung des Relativismus von solchem kritischen Bewusstsein ein. Er prägte das Paradigma vom »zweiten Speer«: Ein Junge wird von einer Schlange gebissen. Die Azande wissen um die empirische Wirkung des Schlangengifts. Sie machen jedoch einen »zweiten Speer«, die Hexerei, dafür verantwortlich, dass der Junge just zu dem Zeitpunkt am gleichen Ort wie die Schlange war. Engländer glauben an den Zufall, den Azande erklärt die Hexerei dasselbe. Hexereivorstellungen waren fortan »rational«, Aufklärung überflüssig. Weil Hexereianklagen unter der »pax colonia« selten in Gewalt mündeten, galten die entsprechend harmlosen Anklagerituale als Aggressionsventil für »soziale Spannungen«. Evans-Pritchard schönte systematisch seine Ethnographien, um seine Gastgesellschaften vor dem zeitgenössischen Rassismus der Briten und kolonialpolitischen Überreaktionen zu bewahren. Sein Relativismus blieb in Wort und Tat inkonsequent: Er rekrutierte eine afrikanische Guerillaarmee und setzte den deutschen und italienischen Faschisten als Scharfschütze empfindlich zu. Leider überlebte nicht sein militanter Antifaschismus, sondern sein theoretisches Erbe: Hexenjagden werden bis heute primär als Folgen von Störungen, als Reaktionen auf die Moderne oder als sinnstiftendes Kollektivritual interpretiert. Therapien von »witch-doctors« und Geistmedien gelten als »semantisches Geflecht«, das »holistisch« die »spirituellen und sozialen« Hintergründe anspricht. Der Interventionsdruck bei Leiden und Tod wird mit Euphemismen zugedeckt. Nichts soll an den traditionellen Krankheitsvorstellungen falsch sein, nichts unwahr. Auch wenn die Idealisierung von Ritualen objektiv wahrer ist als ihr Zerrbild einer Barbarei, aus der die leuchtende Fackel der Zivilisation herausführe, so sucht Ethnologie darin nicht die vernünftigere Umgestaltung der Welt, sondern ein eskapistisches Reservat, in dem man den Unterdrückten noch zynisch von deren »agency« (Handlungsfähigkeit) vorschwärmt. Von Opfern zu sprechen ist gänzlich demodée. Der psychologische Sinn von Ritualen, das darin Beerdigte, wird erst als objektiver Wert verkauft und in einem zweiten Schritt zensiert: Ein Ritual ist gesellschaftlich nützlich, weil es ein Ritual ist. Auf diese Tautologie lassen sich viele neuere Ritualforschungen trotz ihres wertvollen Materials reduzieren. Der unbestimmte Relativismus setzt gleich anstatt zu vergleichen. Im Identifizieren sucht er Entlastung für Handlungsdruck, intellektuelle Anstrengungen oder Schuld: Die Azande sind so rational wie wir – wir sind rational. Probleme von Verschiedenheit und Gleichheit werden doppelt verkehrt. Dieser Relativismus entsprang dem britischen Positivismus mit seiner Psychologiefeindlichkeit. Im weiteren Verlauf förderte der Strukturalismus trotz Claude Leví-Strauss‘ Offenheit für die individualistische Psychoanalyse den stupiden Blick auf verborgene Systeme. Dazu kam der nicht minder positivistische Materialismus des deterministischen Basis-Überbau-Schemas. Aus diesen Elementen entwickelte sich das poststrukturalistische, kulturalistische Dogma in der aktuellen Ethnologie. Ihre Imitationen des Relativismus haben bestenfalls noch den Fortschritt der eigenen Gesellschaft im Sinn, die von ihrer Hybris geheilt werden solle – vom Fortschritt der Anderen spricht niemand mehr. Lediglich an Ausnahmen wie FGM (»Female genital mutilation«) und Genoziden nahmen einzelne Ethnologen ihre avantgardistische Position ernst, um Praktiken zu dokumentieren und Aufklärungskampagnen einzuleiten.
Und doch trugen despkriptive und analytische Arbeiten der Ethnologie weiter zum aufklärerischen Denken bei, indem sie permanent den Finger auf die offene Wunde des Fortschrittproblems legten. Zum Beispiel verursachten Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts sogenannte »Cargo-Kulte« Aufsehen. In Melanesien bauten Menschen Landebahnen, stellten Telegraphenmasten auf, hielten Militärparaden ab – kurzum, sie verhielten sich wie jene Europäer, die im zweiten Weltkrieg auf ihren Inseln plötzlich Militärbasen errichteten. Nur waren zwischen den Masten keine Drähte, Flugzeuge und Gewehre waren aus Holz. Wenig reflektierte Europäer lachten über die »Dummheit« der »Wilden«. Dabei hatten jene Menschen den Reichtum der Europäer nur als Ansammlung von Waren sehen können. Die entfalteten Produktionsverhältnisse konnten sie nicht kennen. Und weil die Waren aus dem Ozean, dem Reich der Ahnen kamen, so vermuteten sie, dass diese Reichtümer für sie bestimmt waren und die Weißen die Ahnen betrogen haben mussten. Also imitierten die Anhänger der Cargo-Kulte die technologischen Verrichtungen und reicherten sie mit eigenem »Ritualwissen« an. Die Bewegungen zerfielen rasch wieder. Wie der Kult der Puritaner, die in ihrem Reichtum einen Beweis ihrer Auserwähltheit durch ihren Gott sahen, versuchten sie sich Reichtumsunterschiede religiös zu erklären. Die Mythologie des Neoliberalismus behauptet spiegelbildlich, wenn man den Reichen nur genug Freiheiten lasse, würden sich ihre Luxusyachten automatisch in Freiheit und Demokratie umsetzen. Die Zermürbung von Infrastruktur und Schulsystemen bereitete aber nur den Boden für charismatische, christliche Kulte, die Reichtum aus dem Gebet erhoffen und die Evolutionslehre ablehnten. Das verratene Glücksversprechen treibt auch die Nachfolger der Religionen zu Ritualen der konformistischen Revolte. Le Pens Neonationalismus will mit Abschottung zu einer grausamen Kopie der alten Welt fortschreiten, der Neoliberalismus mit glashartem Harmonismus, Deregulierung und Steuersenkungen zur neuen. Unterdessen bleibt eine vom automatischen Subjekt motorisierte Aufklärung selbst angesichts seiner finalen Krise aus. So wenig die Geschichte der Rituale vom Problem der Naturbeherrschung abzutrennen war, so wenig ist historisch mit der Naturbeherrschung der Untergang der Rituale besiegelt. Die Einsicht in die lokalen Formen primitiver Akkumulation und ihrer Mythologisierung durch Unterworfene und Kolonisatoren ist das tägliche Brot der Ethnologie.

Historisch entsteht sie aus der Arbeit an der Spaltung in »Kannibalen« und »edle Wilde«. Die Reiseberichte des 18. Jahrhunderts liefern bereits reiche, interessierte und komplexe Studien menschlicher Vergesellschaftung. Im 19. Jahrhundert setzt die Völkerpsychologie ein, deren herausragender Vertreter Wilhelm Wundt neben Frazer zu einer Hauptquelle für den großen Relativisten Sigmund Freud wird. Freud stellt die binäre Trennung von Krankheit und Gesundheit, von Wildheit und Zivilisation in Abrede. Die Neurotiker sind ebenso wenig exotisch wie die »Wilden«, ihre Rituale sind mit dem Normalen verwandt. Im Unbewussten aller biologisch als Steinzeitmenschenkinder geborenen Menschen lauern Todeswünsche, Verschlingungsphantasien und magische Ängste. Psychologisch wie historisch bedeutete die Auseinandersetzung mit den Ritualen der Anderen die Aufklärung über das Eigene. Dafür blieb ein bestimmter, kritischer, universalistischer Relativismus unerlässlich, der konkrete Gegenstände, spezifisches Material in ein Verhältnis setzte. Ein literarischer Vorbote der Psychoanalyse war Herman Melville, der in seinem psychologischen Meisterwerk »Moby Dick« die Auseinandersetzung mit den Fastenritualen des Insulaners und Harpuniers Quequag zum Ausgangspunkt einer Kritik der Frömmlerei der weißen Christen nimmt:
»Let him be, I say: and heaven have mercy on us all – Presbyterians and Pagans alike – for we are all somehow dreadfully cracked about the head, and sadly need mending.«
In seiner Anthropomorphisierung des weißen Wals reflektiert Melville die in Verfolgung umschlagende Naturbeherrschung. Sein Relativismus wird negativ: Religionen sind allesamt irgendwo kaputt im Kopf, was zum versöhnten Mitleid eher als zur Feindschaft verhält. Einen vergleichbaren negativen, universalistischen Relativismus erneuert Kritische Theorie zwei Weltuntergänge später. Das »mending«, das flickende Heilen, ist unvorstellbar geworden. Zu groß ist der depressive Druck auf die Aufgeklärten, zu gering der Anreiz für die Besitzenden, Gesellschaft aus ihren blutigen Fetzen noch einmal zusammenzuflicken, egoistischer Zynismus das logische Resultat. Ein gesellschaftlicher Übergang, wie ihn sich die universalistische Ethnologie der Aufklärung noch als Resultat aus dem Kulturvergleich erhoffte, bleibt aus. Gerade aus dieser Verzweiflung speist sich die Abscheu der zwangsläufig prekär und krisenhaft Zivilisierten gegenüber den unverständlichen Ritualen, die dem analytischen Blick als gar nicht so unlogisch und mitunter sogar recht raffinierte Leistung erscheinen. Der selbstreflektierte, sich seiner Zivilisiertheit versicherte Blick wäre zu einem reifen Avantgardismus in der Lage, der versagten Wunsch und Angst im konkreten Ritual ernst nimmt und besser sublimiert. Man muss Rituale nicht künstlich erhalten. Aber nicht als falsches Bewusstsein wird das Bedürfnis nach ihnen in den Faschismus integriert, sondern als gewusste Lüge, als Mimesis der Mimesis, die den Hass verstärkt. Daher kannten die nationalsozialistischen Rituale anders als die traditionellen keine Katharsis und keine Grenzen. Diese Dialektik der Aufklärung arbeiten der bestimmte und der negative Relativismus heraus, während der unbestimmte, euphemistische und kulturalistische Relativismus jede Grenzarbeit aufgab.

 

[1]    Theodor W. Adorno, Minima Moralia: 60.

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