Ein Vademecum der menschlichen Verhältnisse
»Das andere, bessere Deutschland gibt es nicht.
Was es gibt, sind die Deutschen und ein paar
Menschen, die auch in dieser Gegend wohnen.«
Die Arbeit der Gesellschaftskritik ist von allen Abteilungen des Überbaus die schwierigste. Daß sie von Kohorten haßerfüllter Schmieranten niedergemacht wird, erfuhren schon Georg Christoph Lichtenberg und Karl Kraus. Nur im Zusammenwirken von Unerschrockenheit, Ausdauer, enzyklopädischen Kenntnissen und tief in die gesellschaftliche Tektonik reichendem Strukturwissen sind Fortschritte möglich. Gesellen sich dann noch Empathie und souveränes sprachliches Handwerk hinzu, erreicht Gesellschaftskritik die Höhe der Kunst: Nicht öde Beschreibung, nicht Versöhnung und Behübschung, sondern die Darstellung dessen, was ist.
There is no such thing as society, blaffte Margaret Thatcher. Sie hatte recht. Gesellschaft ist nicht die Summe der Bausparer und puddingeater, die alles Fremdländische in ihren geistigen Vorgärten ausradieren; Gesellschaft ist die Wirklichkeit der Verhältnisse der Individuen untereinander. Die allen gemeinsame Metasprache ist vorgegeben. Ideologien sind das Terrain, auf dem die Menschen sich der strukturellen Konflikte bewußt werden. Nicht das Vermeiden von Ideologien ist das Ziel – wer das versucht, hat die herrschende bereits verinnerlicht – es geht darum, adäquate Auffassungen von der Welt zu entwickeln, solche, die die Menschen vor den verheerendsten Irrtümern bewahren und ein der Zeit angemessenes Niveau gesellschaftlichen Lebens wahrscheinlicher machen.
Nebenerwerbsdenker und Teilzeitkritiker in Journalismus und Kunstgewerbe sind da schon von der Fragestellung überfordert, zwischen Feuilletongeraune und Shortlistfuchserei lassen sie sich nur zu bescheidenen Wagnissen herab und gehen in Kinderplanschbecken auf Haifischjagd. Die Kühnsten der Mutfreien sondern hier und da ein kritisches Kopipsel1 ab, das aber nur gegen abgehalfterte Chargen des staatlichen und politischen Apparats. Werden die verblichenen Größen ins Grab der Öffentlichkeit gesenkt, raffen ihre einstigen Lohnschreiber die letzten Körner Mut zusammen und rufen ein Schmähwort nach.
Nicht zuletzt dieser Sphäre hat Hermann L. Gremliza, konkret-Herausgeber seit 1974, Leben und Arbeit gewidmet. Nach wie vor ist konkret als linke Publikumszeitschrift im deutschen Sprachraum eine Instanz. Sie behauptet diesen Rang, weil sie als Autorenzeitschrift von einem Großmeister geführt wird, der seine Zeitschrift für Autoren wie Wolfgang Pohrt, Peter Hacks und Michael Scharang öffnete. In seinen Leitartikeln, Kolumnen und sprachpolitischen »Erledigungen« (im Sinne von Karl Kraus) sorgt er seit dem ersten Tag für Begeisterung, Verblüffung und Empörung. Eine Auswahl dieser Arbeiten erschien nun, vom Autor bearbeitet und ergänzt, in der edition suhrkamp. Leitmotiv der Texte ist immer wieder die Flucht der Deutschen vor der eigenen Geschichte. Der Nachweis, daß – bis auf Ausnahmen, die an einer Hand abzuzählen sind –, das Führungspersonal Westdeutschlands in Justiz, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft Menschenführung bei Gestapo, SS und dem Reichssicherheitshauptamt gelernt hat, grundiert die Texte, auch wenn sie vordergründig von anderem handeln. Der Topos der letztlich doch siegreichen Nazi wird vielstimmig variiert. Die ehemaligen Herrenmenschen überführen sich gern durch ihre Sprache; im Aufspüren des braunen Gifts ist Gremliza verläßlich wie Volkswagen beim Dieseltrug.
»Was zu tun gewesen wäre: Zahl und Maß der Verbrechen ermitteln, die Täter wegsperren, ihr Vermögen einziehen, vor den Gräbern der Millionen endlich einmal das zu lange zu weit aufgerissene Maul zu halten – daran haben die Deutschen keine historische Sekunde lang gedacht. Daß sie nach Auschwitz aufs Dichten verzichten, hat auch Adorno nicht erwartet. Gehofft haben mag er, daß sie nicht aus Auschwitz Gedichte machen und in den von ihnen angehäuften Leichen etwas anderes sähen als Material für ihre kunstgewerbliche Selbstheilung.«
Basale Inhalte der politischen Ökonomie werden ebenso angesprochen.
»Der Kleinaktionär ist kein kleiner Großaktionär, sondern ein auf Abwege geratener Prämiensparer, der hinter der Baisse, die zur Hausse gehört wie der Wind zur Hose die Kräfte der Finsternis walten sieht: das Finanzkapital, die Amis, die Wall Street und sie wissen schon wen.«
Wie Grundfragen der Gesellschaftstheorie. Gebetsmühlenartig ertönt die Klage, daß ein Vorstand eines Konzerns das Vielhundertfache verdient wie eine Fabrikarbeiterin. Ist er auch vielhundertfach so viel wert?
»Der Vorstand ist wert, was er denen wert ist, die ihn bezahlen, ohne daß ein höheres Wesen sie zwingt. Eine Gesellschaft, die den Wert anders bemäße, und also dem Pfleger, der einer Greisin das Alter erleichtert, das Gehalt zuspräche, das heute ein Vorstandsmitglied bezieht, hieße eine kommunistische. In jeder anderen bedeutet die Anrufung einer Moral, die einen Wert des Menschen und seiner Arbeit jenseits des Marktwerts behauptet, entweder Revolution, die wirkliche Aufhebung der Klassenherrschaft, oder Faschismus, ihre scheinbare Aufhebung in der Volksgemeinschaft.«
Auch den Irrungen und Wirrungen der radikalen Linken versagt der Autor sich nicht. Anläßlich der jährlichen Kundgebungen zum Gedenken an die ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht heißt es:
»Keiner ihrer Texte könnte die Zustimmung des Parteivorstands finden, keines ihrer Verlangen hätte die Chance, ins nächste Wahlprogramm aufgenommen zu werden. (..) Gegen wen oder was da groß und links demonstriert wird? Gegen die herrschende Klasse? Gegen die Staatsgewalt? Gegen den deutschen Imperialismus? Gegen den Antisemitismus? Gegen den Krieg? Das könnte das Verhältnis zum deutschen Bundeswehrverband trüben. Der zweite Sonntag im Januar ist einfach der höchste Feiertag der jüngsten deutschen Sozialdemokratie: ihre heiligen zwei Könige.«
Mit deutschem Humor hat Gremliza soviel gemein wie die SPD mit dem Sozialismus und die FPÖ mit den Menschenrechten. Er hält es mit dem englischen caustic wit, dem beißenden Witz, der in einem Feuerwerk von Esprit und Scharfsinnigkeit hochsteigt.
Weil Hermann L. Gremliza kein Sprach- sondern ein Gesellschaftskritiker ist – erstere fungieren bekanntlich auf braunen Suppen als Ersatzschnittlauch –, ist der vorliegende Band auch ein Beleg dafür, daß der Kommunismus kein Zustand im Delirium der Utopien ist. Er ist die gedankliche und praktische Arbeit der Kritik im und am Kapitalismus.
Ein Vademecum ist ein Heft oder Buch, das als unentbehrlicher Begleiter bei der Berufsausübung, auf Reisen oder auch sonst in allen Lebenslagen mitgeführt werden soll. Voilà, hier ist eines, es gilt Lichtenbergs Satz: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«
[1] Ein Kopipsel ist ein kleines, mit geschäftsüblichen Mitteln nicht mehr teilbares Abfallprodukt, es ist maximal halb so groß wie die äußerste Schnabelspitze einer Jungkrähe von den Gründen des Wiener Psychiatrischen Krankenhaus Steinhof. Der Ausdruck stammt von einer Historikerin der Vorzeigeschule »Maroltingergasse« des Roten Wien aus dem Arbeiterbezirk Ottakring. Seine Herkunft ist nicht gesichert, wohl aber sein Gehalt.
Hermann L. Gremliza, »Haupt- und Nebensätze«. edition suhrkamp 2017, 160 S., 15,50 Euro