servus@servus.at
Unser Verein servus.at steckt seit 2013 in einem massiven Umstruk-turierungsprozess, der von Norbert Schweizer konstruktiv begleitet wird. Dieser Prozess ergab, dass sich unsere oft nicht so gut sichtbaren Aktionsfelder in Zukunft klarer darstellen müssen und Gratis-Support von Projekten, die den Rahmen einer servus-Mitgliedschaft sprengen, stark reduziert werden müssen.
So mussten wir leider auch den Verband freier Radios mit dem Projekt CBA Mitte des Jahres 2014 mit der Weiterverrechnung von für uns real anfallenden Kosten konfrontieren. Um das wertvolle Projekt nicht zu gefährden, haben wir keinen realistischen Stundensatz berücksichtigt.
Verkürzt dargestellt, eine Gliederung in zwei Hauptbereiche unserer Arbeit ist die Folge des Prozesses bisher.
Im Bereich servus TOOLBOX beschäftigen wir uns mit der Entwicklung und Vermittlung der von uns zur Verfügung gestellten freien Werkzeuge und dem Betrieb unseres Kultur-Rechenzentrums im Haus der Stadtwerkstatt, das beispielhaft auch alle Arbeitsstationen unter Linux betreibt. Ziel ist es, freie Open Source Werkzeuge in der Zukunft besser zu vermitteln. Auch eine Reduktion auf wichtige Kernwerkzeuge steht hier immer wieder zur Diskussion mit dem Vorstand und den ordentlichen Mitgliedern des Vereins.
Das hohe Maß an Ehrenamt und eine Reduktion an personellen Ressourcen, mit dem wir unser Daten-Zentrum bisher und nahezu ohne Ausfälle betreiben, in der Open Commons Region, entspricht nicht ganz unserer Vorstellung für die Zukunft – und somit ist der Prozess einer Umstrukturierung längst nicht abgeschlossen!
Für den zweiten Bereich, dem wir 2015 der künstlerischen Forschung widmen, konnten wir mit Andreas Zingerle und Linda Kronman, dem finnisch-österreichischen Künstlerduo ‘kairus.org’ zwei Künstler_innen ins Boot holen, deren eigene Forschungsfragen gut mit den servus-Vereinszielen und unserem nun biennal geplanten Festival »Art Meets Radical Openness« (AMRO) zusammenpassen. Durch eine gemeinsame Einreichung beim Bundeskanzleramt Kunst und Kultur steht dem Projekt 2015 ein eigenständiges Budget zur Verfügung. Darüber freuen wir uns!
AMRO Forschungslabor: »Behind the smart world«
Andreas Zingerle, Linda Kronman
Für die meisten Konsumentinnen in unserer westlichen Welt sind elektronische Geräte wie Smartphones, Tablets, Notebooks, Drucker oder Mikrowellen grundlegende und unverzichtbare Teile unseres täglichen Lebens. Als Folge des stetigen Wachstums und ständiger Innovationen ist die Elektronikindustrie die weltweit am schnellsten wachsende Branche, geprägt von immer kürzer werdenden Lebenszyklen und andererseits durch eine lange Lebensdauer und hohe Wertstoffgehalte der Einzelkomponenten. Insgesamt fallen in Österreich pro Jahr 100 bis 120.000 Tonnen alte Elektro- und Elektronikgeräte an. Das »Internet der Dinge«, welches die Vernetzung von Dingen in unserer »smarten Welt« vorantreibt, beschert uns neben neuen Gewohnheiten und kulturellen Umformungen auch mehr Elektronik- und Datenmüll. Geräte funktionieren heute als 24h-Überwachungssysteme, welche jeden Aspekt unseres Lebens bewusst oder unbewusst in Form von Daten aufzeichnen. Der Lebenszyklus dieser Produkte ist verhältnismäßig kurz und nicht darauf ausgerichtet wieder repariert zu werden. Viele dieser Geräte enden in regulierten Elektronik-Müll-Zentralen in Europa. Viele von ihnen werden als Entwicklungshilfe getarnt nach Westafrika, Südasien und andere Entwicklungsländer verschifft und dort illegal auf Müllhalden deponiert, wo sie eine ernste Gefahr für die Umwelt darstellen. Dabei wird in vielen Fällen internationales Recht, z.B.: die »Basel Konvention«, welche den grenzüberschreitenden Transport gefährlicher Abfälle regelt, gebrochen.
Im Rahmen eines Artist-in-Residence Aufenthaltes besuchten wir im August 2014 die weltgrößte Elektroschrotthalde ‘Agbogbloshie’ im westafrikanischen Staat Ghana. Das Gebiet umfasst ca. 1600 Hektar und liegt zentral in der Korle-Lagune in der Hauptstadt Accra. Circa 50.000 Menschen leben und arbeiten auf der Schrotthalde. Aus der nur 25 km entfernt liegenden Hafenstadt Tema werden Elektrogeräte mittels Schiffscontainern angeliefert. Dann beginnt das große Sortieren: Was noch funktioniert, wird sofort weiterverkauft, der Rest in Einzelteile zerlegt und nach Verwertbarem durchforstet. Oft bleibt nur ein Haufen Kabelstränge übrig, von welchen das Plastik weggebrannt wird, um an die Kupferdrähte zu gelangen. Aluminium wird in leeren Computergehäusen gesammelt, diese dienen als Transportkisten. Kaputte Röhrenmonitore werden als Sitzgelegenheiten umfunktioniert. Kinder ziehen Magnete von Lautsprecherchassis hinter sich her, um so eisenhaltige Kleinteile vom Boden aufzusammeln. Gifte wie Quecksilber, Phosphor, Cadmium oder Blei gelangen in den Boden. Durch das offene Verbrennen schweben dicke Dioxin-Wolken über dem Gebiet. Die Giftstoffe dringen durch das Grundwasser und die Nahrungskette in die Körper der dort lebenden Menschen ein. Unmittelbare körperliche Beschwerden sind u.a. ständige Kopfschmerzen, gerötete Augen oder Schlaflosigkeit. Viele Jugendliche leiden an Asthma oder Nierenversagen und sterben an Leukämie bevor sie 20 Jahre alt sind. Bei starken Regenfällen stehen große Teile der Lagune unter Wasser und es kann Tage dauern, bis das Wasser in den Atlantik abfließt. Kanalisation gibt es keine, somit bestehen beste Voraussetzungen für Cholera und andere Seuchen. Es gibt viele Gründe, warum das Gebiet von Agbogbloshie im Volksmund auch ‘Sodom und Gomorra’ genannt wird.
In der Deponie ergreifen auch einige die Möglichkeit, persönliche und sensible Daten aus Kopierern, Computern oder Mobiltelefonen auszuwerten. Die Speichermedien werden im großen Stil gesammelt und weltweit an Interessenten weiterverkauft. In unserer Arbeit durchforsteten wir einige Container von Agbogbloshie und erwarben eine Auswahl von 22 Laptop- und Computerfestplatten. Wir wurden nie gefragt, wofür wir diese Festplatten benötigen, viele sahen eher einen zukünftigen Geschäftspartner in uns und teilten ihre Kontaktadressen mit. Die Händler versicherten, beste Qualität zu einem Freundschaftspreis liefern zu können.
Im ersten Teil des ‘Art Meets Radical Openness’ Forschungslabors ‘Behind the smart world’ im CLUBRAUM analysieren wir die 22 erworbenen Festplatten mit Peter Wagenhuber.
Wir wollen selber erfahren, ob Leute mit ihren Daten wirklich so achtlos umgehen. Fünf Festplatten funktionierten auf Anhieb und gaben Zugriff auf private Dateien. Die restlichen Festplatten ließen sich aufgrund von Hardwarefehlern nicht booten und werden nun von Datenforensikerinnen der Firma ‘ECS-Datenrettung Global’ genauer analysiert. In einem künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungslabor im Mai werden Künstlerinnen aus Norwegen, Finnland, den Niederlanden, Deutschland, Ungarn, der Schweiz und Österreich diese Festplatten als Ausgangsmaterial für eigene künstlerische Positionen nutzen. Wir planen ein kleines Symposium mit Vorträgen über E-waste Recycling, Datenforensik und Datensicherheit.
Die Diskussion und Reflexion darüber prägen den künstlerischen Arbeitsprozess. Gemeinsam wollen wir uns Gedanken machen, wie die gefundenen Daten noch missbraucht werden könnten. Ist es moralisch vertretbar, persönliche und sensible Daten unbekannter Dritter für künstlerische Arbeiten zu verwenden? Wo stößt man auf Grenzen und sind diese Erfahrungen auch auf außerkünstlerische Situationen oder Denkprozesse anwendbar?
Diese und ähnliche Fragen werden wir im Laufe des Forschungslabors aufwerfen und diskutieren. Unter ‘research.radical-openness.org’ kann man die Projektentwicklung verfolgen.