Chronik einer fröhlichen Verschwörung
Ein alter misanthropischer Intellektueller, Ernst Katz, und ein 17-jähriger Wildfang, Biggy Haunschmid, versuchen den Roman eines jungen Erfolgsautors über das Schicksal einer jüdischen Philosophin zu verhindern, mit der jenen ein dunkles Geheimnis verbindet. Was klingt wie die Verlagerung des Westerns »True Grit« ins wilde Mitteleuropa unserer Tage, entpuppt sich als ebenso tiefgründiger wie leichtfüßiger Schelmen- und Bildungsroman. Zwischendurch blitzen mal didaktisch, mal dekonstruktiv essayistische Passagen auf. Hier eine davon.
Was Ernst Katz an der Verwertung des Holocausts nicht mag
Biggy und Ernst Katz saßen im firmeneigenen Restaurant eines Möbelhauses und aßen Schnitzel mit Pommes und Senf um unglaubliche drei Euro fünfzig. Biggy war schon bei der zweiten Portion, als sie Ernst Katz ein weiteres Mal fragte, was er gegen diesen René Mackensen habe. Mackensen als Person und schon gar als Persönlichkeit sei ihm egal, wie oft solle er das wiederholen. Denn gebe es die Maden in den Kulturredaktionen nicht, die sich an solch einem Scheißdreck labten, hätten es die Mackensens schwerer und gute Autoren leichter. Warum er die jungen Schriftsteller allesamt ablehne, wollte Biggy wissen. Das sei eine Unterstellung, erwiderte Ernst und zählte drei Schriftsteller und zwei Schriftstellerinnen auf, die er vorbehaltlos bewundere. Biggy kannte sie nicht. Nach einem Schluck Bier gab Ernst schnippisch lächelnd zu, sie auch nicht zu kennen und soeben erfunden zu haben. Sie, Biggy, solle ihn nicht quälen, er halte es für durchaus wahrscheinlich, dass sich unter der neuen Generation passable Köpfe befänden, doch er habe bis jetzt keine Zeit gehabt, sie zu lesen, da er mit den toten Autoren noch lange nicht durch sei. Aber, dabei hob er die rechte Hand, er schwöre bei diesem Wiener Schnitzel, dass er seine Pflichtschuld einlösen und die Lektüre all der jungen Literaturstars nachholen werde – sobald sie gestorben seien.
Ernst Katz lachte über seinen eigenen Scherz und wollte auch Biggy dazu animieren. »Warum wehrst du dich so dagegen, dass der Typ den Roman schreibt?«
Prinzipiell, sagte Ernst, dürfe Kunst alles, und Literatur habe man Themen weder vorzuschreiben noch zu verbieten. Doch als Geigerzähler des kritischen Bewusstseins und Rächer der missachteten Wahrheiten mache es ständig Grrzze-grrmm und krock-krrzzzzpchhh, wenn er mit seinem Zählrohr die Kunst nach Verstrahlung durch Opportunismus und Dummheit prüfe. Der Faschismus und die Massenvernichtung der europäischen Juden seien nicht irgendein melodramatischer Topos der Vergangenheit wie die Zeit der Drei Musketiere oder das coole Künstlerleben am Montmartre um 1900, sondern der Brennpunkt der abendländischen Zivilisation. Nichts was sich danach ereignete, sei ohne diesen zu verstehen, noch in hunderten Jahren würden im Feinstaub, den wir aus unserer Nase bohren und der sich in unseren Bronchien festsetzt, Partikel aus den Schloten der Vernichtung schweben. Auschwitz sei die ewig glosende Kernschmelze des Fortschritts, nach der jede Naivität zum Verbrechen werde. Auschwitz zu gedenken, heiße aber nicht Kränze niederzulegen, heiße weder Trauerarbeit noch Mystifikation noch das voyeuristische Ejakulieren von filmreifem Tragikschleim, gedenken heiße nichts als denken, nur so ließe die Bezeichnung Denkmal sich rechtfertigen, es sei die nicht abreißen dürfende Reflexion und Bekämpfung aller Kräfte, die den Menschen zum Barbaren machen, um jegliche Gleislegung in Richtung künftiger Barbarei schon nach der ersten Schwelle zu sabotieren, selbst wenn im Bewusstsein der Zeitgenossen noch nichts von dieser Richtung kündet und einem deren Gegnerschaft einträgt.
»Zu schnell«, unterbrach ihn Biggy. Ernst verlangsamte seine Rede, um bald wieder in das alte Tempo zu kommen.
»Gedenkarbeit aber ist nicht Denkarbeit.« Ein Großteil dessen, was sich als Memento Auschwitz und Vergangenheitsbewältigung ausgebe, trage nicht zur Erhellung, sondern zur Kolorisierung des Geschehenen bei. Zur Tröstung der Täter und ihrer Kinder. Und zur Institutionalisierung eines schlechten Gewissens, das das Hirn lähme und die politisch inkorrekten Tölpel ganz zu Recht zur Provokation einlade.
Der Holocaust, das sei der bislang unerreichte Gipfel menschlicher Bestialität, dessen Gleichstellung mit anderen Verbrechen gegen die Menschheit einzig auf Unwissen oder Schäbigkeit beruhe, dessen Beschreibung an die Grenzen der Unbeschreiblichkeit stoße und dessen realistische Abbildung nur zur Banalisierung und Verharmlosung des Schreckens führe. Aber, sprach Ernst im bedrohlich anschwellenden Ton eines amerikanischen Wanderpredigers, es müsse auch herhalten als Rohmaterial menschlichen Leids, mit dem Künstler unter dem Vorwand der Aufklärung das Geschäft der Banalisierung und der Verharmlosung betrieben. Das Nazimusical, das engagierte KZ-Drama und die beherzte filmische Anklage gehörten mittlerweile zum Genrerepertoire wie die Verwechslungskomödie und der Mantel-und-Degen-Film, weil die Epoche, die jene verwursten, längst zur historischen Requisite für Suspense und Tragik erklärt worden sei. Ein zweites Mal seien die Gemordeten wehrlos gegen ihre industrielle Verwertung. Die Nazis hätten Lampenschirme aus ihren Häuten gemacht, die engagierten Künstler kritzelten darauf, wie arm die Opfer und wie böse die Täter gewesen seien, oder bemalten sie mit erschütternden Actionszenen. Dafür regnete es Literaturpreise und Césars und Oscars und Goldene Bären. Es sei die Heuchelei, die ihn wütend mache, mit der sich jeder dahergelaufene Schmierfink und Szenefilmer in diesem Geschichtsmuseum des Schreckens bedienen dürfe. Die Heuchelei, mit der sie sich ihre zeitgeistige Doppelperversion von Nekrophilie und Erfolgsgeilheit von den dressierten Affen des Kulturmarkts als hohen intellektuellen Wert oder mutiges Engagement anrechnen ließen.
Was brauche er den hundertzwanzigsten Flüchtlingsroman, was die dreitausendste jüdische Familiengeschichte von irgendwelchen erfahrungslosen Schwundstufen großer Literatur und großer Essayistik? Wer sich mit jener Zeit, deren Aschewolken uns heute noch die Sonne verdunkelten, beschäftigen wolle, der solle mit den großen Zeitzeugen darüber denken lernen. Diese Menschen seien nicht die einzig legitimen Chronisten, weil sie Überlebende waren, sondern die Gedankenschärfe und Eindringlichkeit, mit denen sie Zeugnis ablegten, seien bereits Mitgrund ihrer Verfolgung gewesen. Jene Wahrhaftigkeit, mit der sie unter Aufbietung ihrer größten geistigen Kräfte die hypnotische Starre der totalen Verdinglichung lösten. Jegliche auktoriale Eitelkeit und Koketterie indes, jeglicher Hang zum Genrebild habe sich, falls überhaupt vorhanden, in der Distanz zum Unsagbaren in nichts aufgelöst. Ein René Mackensen könne noch so oft zu heiß oder zu kalt duschen oder absichtlich auf die Herdplatte greifen, er komme den Opfern dadurch nicht näher. Und solle sich glücklich schätzen, solch Leiden entkommen zu sein, welches das Denken der Überlebenden gleichsam hemmte wie antrieb.
Die kulturindustrielle Verwurstung von Nazizeit und Judenmord aber zeige uns klar die Wahrheit jeglicher Verwertung. Seit Jahrzehnten arbeiteten Heere an nonkonformistischen Konformisten daran, die Erinnerung dem gehobenen Publikumsgeschmack anzupassen, kaum merklich, mit winzigen Pinselstrichen, je realistischer, desto verzerrter bastelten sie an historischen Rekonstruktionen, die sich Stück für Stück vors verblassende Original schöben, bis sie sich unserer Wahrnehmung allein als Wahrheit aufdrängten, der gegenüber das Original als Hochstapler figuriere. Wenn die letzten Überlebenden und mit ihnen die letzten Instanzen des Widerrufs zu Grabe getragen würden, dann gehörten Auschwitz und Hitler endlich uns. Mächtige Vorarbeit darin habe der gefährlichste Apostel der Leichenschändung, Steven Spielberg, geleistet. Mit seinem hyperrealistischen und dadurch umso kitschigeren Machwerk. Großes Gefühlskino, handwerklich brillant und dramaturgisch einwandfrei, so habe er sich die Akzeptanz derer erschlichen, die alles fressen, was der Markt ihnen in den Saukoben schüttet. Doch wer mit den Originalen zu denken gelernt habe, der sei Spielberg nicht auf den Leim gegangen. Gerade in diesem dokumentarischen Realismus verriete sich der Wechselbalg. Dieses Art-déco-Luxus-Schwarzweiß. Dieser bemühte Doku-Fokus. Als hätten die Juden im Lager Ebensee die Berge ringsumher nicht beinahe in dem knalligen Grün jener judenfreien Heimatfilme bewundert, mit denen die Täter wenige Jahre danach sowohl über die Opfer als auch über guten Geschmack triumphierten. Wie könne man so schäbig und dumm sein, zu glauben, der schrecklichen Realität mit ästhetischem Realismus beikommen zu können. Selbst das KZ-Musical sei auf bizarre Weise dem Sujet angemessener. Doch hinter Spielbergs amerikanischer Naivität verberge sich das stille sadistische Einverständnis des Actionregisseurs mit seinem Publikum. Das zeige sich im verhaltenen Sadismus seiner Detailverliebtheit bei Gewaltszenen. Die sündteuren Special Effects, das Zerspringen von Schädelkapseln, das Rauchen der Schusswunde, das pulsierende Blut und Spielbergs unbestreitbare Pionierleistung der filmischen Lebensnähe für Feinkostvoyeure, das Geräusch der Patronenhülsen beim Aufschlagen auf Kopfsteinpflaster. Mel Gibson würde eine sadistische Sau genannt, aber Spielberg dürfe wie eine dressierte Robbe Ehren-doktorhüte von philosophischen Fakultäten auffangen. Und der Sinn des ganzen KZ-Sandalen-Dramas, die Wirklichkeit der sechs Millionen nach Fallen des Kinovorhangs ins Requisitenlager der Geschichte abzuschieben – die Täter können ihren Opfern endlich verzeihen.
Am meisten aber, Ernsts Stirnadern füllten sich mit Blutfluten biblischen Zorns, widerte ihn der posthume Kannibalismus der Täter und ihrer Nachfahren an, mit dem sie sich an allem echten und eingebildeten Jüdischen gütlich täten. Klara Sonnensein sei es schon in den Sechzigerjahren aufgefallen, mit welch lässiger Beiläufigkeit die Wiener jiddische Begriffe in ihre Alltagssprache kidnappten, die sie, als deren Sprecher noch lebten, nie verwendet hätten. Heinrich Himmler habe in den letzten Kriegstagen den Deutschen anempfohlen, dass, wenn sie bis jetzt Juden ausgerottet hätten, sie von nun an Judenpfleger sein müssten. Keine Grabschändung konnte gut genug gemeint sein, um das Geschehene ungeschehen zu machen und die Schuld zu tilgen. Doch was den Nazis mit ihren Nürnberger Rassegesetzen nur bedingt gelungen sei, das hätten ihre linken und antifaschistischen Enkel vollendet durch die Vorstellung eines jüdischen Volkstums, an dessen faszinierender Eigenheit man sich wieder gutes Gewissen zum eigenen Volkstume habe machen können. Die kannibalistische Aneignung jüdischer Kultur oder dessen, was man sich darunter vorstellte, teilte sich mit dem Antisemitismus die Verachtung der kulturlosen Juden. Jüdische Vornamen für Kinder, deren Kinder die ihren wieder Horst und Odo würden nennen dürfen, das kreischende Singen von chassidischen Oj-joj-jojs, um wieder jodeln zu dürfen, die aberhunderten arischen Klezmerbands, die sich das Recht, Israel die Leviten zu lesen, mit herzzerreißenden Klarinettensoli erspielten, die verkitschte Rekonstruktion des guten alten niedergebrannten Shtetls, mit dem sich das antifaschistische Dorf in chassidischer Eintracht gegen Stadt und Moderne verbünden konnte. Ernst Katz begann zu schreien: Und dann dieses sentimentale Seufzen bei der Beschwörung des unwiederbringlichen jüdischen Humors! Schon immer hätte er, wenn einer dieser linken Idioten nur mit dem lachhaften Imitat eines Jiddischs, dem kein Jiddischsprachiger mehr widersprechen konnte, einen Witz anfing – Sogt der Grinberg zum Teitelbaum –, schon immer hätte er denen am liebsten eine in die Goschen gehaut und habe es auch schon öfters angedroht. Unter der Geiselhaft durch den Antisemitismus spiele der kulturalistische Philosemitismus sich als Zoo- und Museumswärter alles Jüdischen auf, jiddische Kochrezepte, Adorno, Woody Allen und die schönsten chassidischen Kreistänze. Und niemand sei so qualifiziert, der israelischen Politik auf die Finger zu klopfen wie die Kinder der Täter, die ja ihren Teil zur Wiedergutmachung mehr als genug geleistet hätten, jetzt würde es langsam Zeit, dass die Opfer auch was dafür leisteten, sonst würden andere Saiten aufgezogen, aber hallo. Ach, schrie Katz, käme nur ein Golem, der nicht nur den rechten Abschaum zerschmettere, sondern den Judenfreunden ihre Plüschrabbis entreißen und die verwöhnten Fingerchen brechen würde.
Dann ging Ernst Katz der Atem aus, und er sagte kein Wort mehr. Biggy blickte ihn mit leuchtenden Augen an, mehr hingerissen von seiner altersungemäßen Cholerik und der Eloquenz, die ihm diese verlieh, als vom Inhalt der Worte selbst, deren Gehalt sie nachprüfen musste. Jetzt merkte Katz erst, dass es im ganzen Restaurant mucksmäuschenstill war, alle blickten ihn an, entsetzt, fassungslos, erstaunt, die Gäste wie die Kellnerinnen. Eine ältere Dame packte ihre zwei Riesensäcke mit Abverkaufsteppichen und verließ heulend das Lokal.
Aus: Richard Schuberth: Chronik einer fröhlichen Verschwörung © Paul Zsolnay Verlag Wien 2015. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Richard Schuberth, Chronik einer fröhlichen Verschwörung, Roman, Hardcover, 480 Seiten, Preis: EUR 22,90, ISBN: 3552057145
Buchpräsentation: 26. März im Schwarzberg (Wien)