Risikomaximierung

Bündeln, neu verpacken, weiterreichen usw. – Der Ökonom Beat Weber über die Finanzkrise.

Die Finanzmarktkrise hält die Öffentlichkeit in Atem. Mit dem Platzen zweifelhafter Kredite, die im Zuge der US-Immobilienbooms der letzten Jahre vergeben worden waren, setzte im Sommer 2007 ein Dominoeffekt im Finanzsystem ein, der mittlerweile einige Banken zu Sozialfällen gemacht hat, die vom Staat aufgefangen werden mussten. Schien anfangs vor allem das US-Finanzsystem betroffen, zeigte sich spätestens diesen Herbst, dass auch europäische Banken beim Kreditkarussell der letzten Jahre im Spiel waren und Krisenopfer wurden. Auch die österreichischen Banken schienen anfangs von der Krise verschont zu bleiben, weil sie sich an den Geschäften rund um den Immobilien- und Finanzboom in den USA kaum beteiligt hatten. Doch seitdem die Krise auch Osteuropa erreicht hat, weil Anlagegeld in Panik aus allen riskanten Regionen der Welt flieht und die einstige Goldgrube in die Krise stürzt, kommt auf die dortigen Tochtergesellschaften heimischer Banken auch Ungemach zu. Die Bank von England schätzt die globalen Kosten der Krise auf 2.8 Billionen US-Dollar. Jetzt schwappt die Krise von den Banken auch auf den Rest der Wirtschaft über.

Während Politiker sich als heroische Krisenmanager zu profilieren versuchen, begeben sich die Medien auf die Suche nach Schuldigen: Konnten gierige Zocker den Hals nicht voll genug kriegen? Haben Nieten im Nadelstreif dick abkassiert und Mist gebaut? Hat sich der Finanzsektor von jeder Realität abgekoppelt?

Sowohl individuelles Versagen und Betrugsverhalten als auch Systemversagen des Finanzsektors spielen natürlich eine Rolle. Einzelne trader sind zu große Risiken eingegangen und haben sich verspekuliert. Chefs von Banken und Kontrollorgane haben trotz großer Gehälter und großer Risiken ihre Verantwortung nicht wahrgenommen und zu wenig genau hingeschaut.

Auch ein zu großes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Finanzsektors hat dazu geführt, dass der Finanzsektor ein Eigenleben entwickelt hat, dem von Seiten der Politik und der Aufsichtsorgane zu viele Freiräume eingeräumt wurden. Das ließ Spielraum für ein Feuerwerk von innovativen und undurchsichtigen Finanzprodukten, mit denen angeblich das Risiko besser gemanagt werden könne (und nebenbei tolle Gebühren verdient werden konnten). Dabei entstanden derart komplizierte Produkte und Transaktionen, dass viele Profis die dahinter liegenden Risiken nicht durchschauten und den Überblick verloren. Das Risiko des Zahlungsausfalls von schlampig geprüften KreditnehmerInnen wurde von Finanzinstituten gebündelt, neu verpackt und an andere InvestorInnen weitergereicht. Die schnitten sich ein Stück vom Kuchen ab und verteilten das Bündel neu verpackt wieder weiter. Die Idee dahinter: So wird Risiko auf viele Schultern verteilt und somit vom Gesamtsystem besser aufgefangen. Nebenbei fallen gute Gebühreneinnahmen ab. Weil jedoch der Überblick verloren ging und zu wenig Risikoprüfung stattfand, weil alle überoptimistisch an eine Periode anhaltender Gewinne glaubten und zu viele Geschäfte auf Pump eingegangen wurden, wurde letztlich das Risiko für das Gesamtsystem vergrößert statt verringert und besser verteilt. Auch ein Jahr nach Ausbrechen der Krise ist noch immer vielfach unklar, welche Risiken wo versteckt sind. Nur nach und nach kommen Informationen zutage – wenn wieder ein Finanzinstitut zahlungsunfähig wird, weil sich sein Portfolio als Ramsch entpuppt, den niemand mehr kaufen will.

Die Praktiken der Kreditvergabe und der Umgang mit Risiko im Finanzsektor müssen deshalb in Zukunft stärker geregelt werden, so der Tenor der laufenden Debatte über die Reform der Finanzmarktregulierung. Wer einen Kredit vergibt, soll die Verantwortung für das Risiko nicht völlig auf andere abwälzen können. Um KreditnehmerInnen nicht Schulden aufzuhalsen, deren Tragweite sie nicht erkennen und die sie übergroßen Risiken aussetzen, wie die räuberische "Subprime"-Kreditvergabe in den USA, die letztlich die Krise ausgelöst hat, aber etwa auch die jahrelang so beliebte wie fragwürdige Praxis der Vergabe von Fremdwährungskrediten in Österreich.

Aber die aktuelle Krise ist nicht nur ein Versagen des Finanzsektors, sondern auch Ergebnis der zunehmenden Verteilungsschieflage der letzten Jahre. Zum einen auf globaler Ebene: Der chinesische Staat und die erdölexportierenden Staaten haben in den letzten Jahren Unsummen Dollar aus ihren Exporterlösen gebunkert und in den USA angelegt. Zum anderen die private Vermögenskonzentration: Die Ansammlung gigantischer Vermögen in privaten Händen auf der Suche nach lukrativen Veranlagungsmöglichkeiten. Beides hat dazu geführt, dass die Finanzinstitute (v.a. in den USA) mehr Geld in den Händen hatten als durch lukrative Investitionsprojekte absorbiert werden konnte, weshalb durch geschicktes Agieren - in der Hoffung, Profite daraus zu ziehen, ohne die Folgen tragen zu müssen - windige Geschäftsideen entwickelt und unsolide Kredite vergeben wurden. Zum Beispiel Kredite an arme Leute in den USA, um Häuser auf Kredit zu kaufen, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten. Statt unleistbare Kredite wären für diese Leute staatliche Unterstützungsmaßnahmen oder sozialer Wohnbau nötig gewesen – finanziert aus Einkommens- und Vermögenssteuern. Die Weigerung der Wohlhabenden, größere Teile ihres Einkommens und Vermögens über den Steuertopf den Armen zugute kommen zu lassen und stattdessen zu versuchen, mit den Armen (Kredit)Geschäfte zu machen, ist schief gegangen. Nur durch staatliche Umverteilung zu den unteren Einkommensschichten wäre eine Kombination aus hoher privater Konsumnachfrage und nachhaltigem Wirtschaftswachstum möglich gewesen und hätte das Entstehen einer so gigantischen Finanzblase möglicherweise verhindert.

Eine weitere Krisenursache ist der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung von Risiko. Die Wirtschaftspolitik hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten bemüht, insbesondere die Risiken für die Altersvorsorge zunehmend loszuwerden und an die persönliche Verantwortung der Einzelnen zu delegieren. Der Finanzsektor hat sich dafür als Risiko-Verwalter präsentiert, der seine Sache besser und lukrativer macht als der Staat: Von der Unternehmensführung über die Orchestrierung von Fusionen bis zur privaten Pensionsvorsorge konnte der Finanzsektor immer neue Aufgaben an sich ziehen und infolge dessen auch Kapital. Immer mehr Bereiche des Alltags werden mit dem Finanzwesen verknüpft. Nach der jetzigen Krise, wo sich der Finanzsektor als Risikoproduzent statt als überlegener Risiko-Verwalter entpuppt hat, der mit den vielen neuen Aufgaben überfordert ist, sollten ihm vielleicht einige diese Überlasten wieder abgenommen werden. Die Altersvorsorge und andere Aufgaben sind vermutlich doch besser in öffentlichen Händen aufgehoben, wo nicht Rendite für den Verwalter, sondern gesellschaftliche Ziele in den Vordergrund gestellt werden können. Diese grundlegenden Fragen gehen im derzeitigen Krisenmanagement unter.

Dass zu wenig reguliert wurde, haben Behörden und viele Marktakteure mittlerweile erkannt. Aber während wirtschaftspolitische Akteure die Krise als Gelegenheit nutzen, um staatsmännisch Handlungsfähigkeit zu demonstrieren (vgl. die Auftritte des britischen Kanzlers Gordon Brown und des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy), bleibt die Frage der Demokratisierung der Debatte und – damit verbunden - der Verteilung der Lasten dieser und künftiger Probleme in Zusammenhang mit dem Finanzsektor ausgeblendet.

Ein gutes Beispiel dafür bietet schon das unmittelbare Krisenmanagement: Die Rettungsaktionen, mit denen die Staaten derzeit den Banken unter die Arme greifen, sind zwar wichtig, um das für die Gesamtwirtschaft so wichtige Kreditsystem aufrechtzuerhalten. Aber der Zeitdruck der Krise birgt die Gefahr, dass wieder einzelne "Macher" das Gesetz des Handelns an sich reißen, und zu wenig Zeit und Raum bleibt für Debatten in Parlament und Öffentlichkeit, mit welchen Bedingungen denn so eine Hilfe verknüpft werden soll. Was bekommt die Öffentlichkeit für die Hilfe, die sie den Banken gewährt? Welche Konsequenzen für die künftige Geschäftspolitik der Banken sind zu ziehen?

Dazu wäre eine Änderung des gewohnten Gangs der Debatten um Finanzmarktregulierung vonnöten. Es braucht ein Gegengewicht in den Beratungen über Regeln für die Finanzwirtschaft, um darin andere gesellschaftliche Interessen zur Geltung zu bringen und die thematische Verknüpfung zu gesellschaftlichen Fragen herzustellen. Bislang sind Debatten über eine Regulierung des Finanzsektors und das Verhältnis von Finanzsektor und Gesellschaft zu stark von der Branche selbst dominiert. Einmischung von bisherigen "Outsidern" tut not. Denn es geht dabei nicht nur um die Regelung von technischen Details von und für ExpertInnen, sondern um die künftige Rolle des Sektors im Kontext der Frage, wie gesellschaftliche Risiken (z.B. Alter, Armut) und Ressourcen (Einkommen, Vermögen) verteilt bzw. verwaltet werden sollen.

Beat Weber ist Ökonom und Mitglied des Beirats für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM)

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