Améry lesen!

Améry lesen! Anna M. Liebmann zum dreißigsten Todestag von Jean Améry (1912 – 1978)

Am 17. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry im Salzburger Hotel »Österreichischer Hof« das Leben. Ein Essayist, der gern als Literat anerkannt gewesen wäre, ein Linker, dem es die Linke schwer macht, ein Jude, der mit Juden nichts anzufangen weiß. Irene Heidelberger-Leonard macht in der Biographie Jean Améry. Revolte in der Resignation Jean Amérys - oftmals gescheiterte - literarische Versuche zum Leitmotiv, während Hans Höller Jean Améry durch Altern und Exil gebrochenen beschreibt. Fest steht: Jean Améry hat unermüdlich geschrieben, Reportagen für Zeitungen, Essays zum geistigen und kulturellen Leben in Frankreich und Deutschland, über das Altern und den Freitod, zu Flauberts Charles Bovary. So facettenreich die Lebensgeschichte und das intellektuelle Vermächtnis sind, so armselig ist die Rezeption: Anstatt zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern zu gehören, blieb er für dreißig Jahre einer eingeschworenen Gruppe aus Exilliteratur-ForscherInnen, Auschwitz-HistoriographInnen und Freitod-PhilosophInnen vorbehalten.

Auch wenn Jean Améry noch immer zu sehr in Vergessenheit geraten ist, so bewirkt die Neu- und teilweise Erstauflage seiner Schriften in einer Werke-Ausgabe bei Klett-Cotta eine Wiederentdeckung im Feuilleton, verlautet zumindest »Die Zeit«. Und Zeit wird es, denn Jean Amérys klarsichtiges, reflektiertes literarisches Vermächtnis über sein eigenes Leben, und über das intellektuelle, soziale, künstlerische und politische Leben Europas, beeindruckt: »Ich erlebe und erhelle in meiner Existenz eine geschichtliche Realität meiner Epoche, und da ich sie tiefer erfuhr als die Mehrzahl meiner Stammesgenossen, kann ich sie auch besser erleuchten. Das ist (…) ein Zufallsgeschick«.

Jean Améry wird 1912 als Hans Chaim Maier »durch ein Versehen«, wie er anmerkt, in Wien geboren. Bis 1954 finden sich verschiedenste Schreibweisen seines Namens. Nach dem Tod seines Vaters Paul an der Front pachtet seine Mutter Valerie (geb. Goldschmidt) in Bad Ischl eine nur leidlich Gewinn erwirtschaftende Wirtsstube. Sie ist »Halbjüdin, hatte bei der Heirat die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche mit der Mitgliedschaft bei der israelitischen Kultusgemeinde vertauscht. Ihre Kenntnisse vom Judentum gingen denn auch dementsprechend nicht sehr tief: Sie sagte gern ‚nebbich’ […] und ‚meschugge’. Noch häufiger allerdings sagte sie ‚Jessasmariandjosef’, wozu bei uns auch meist guter Grund vorhanden war.«
1926 folgt ein weiterer Umzug – wieder zurück nach Wien – wo Hans Maier unter Leopold Langhammer eine Buchhandelslehre in der Buchhandlung und dem Zeitungsbureau Hermann Goldschmid, der heutigen Morawa-Buchhandlung absolviert, bevor er von 1930 bis 1938 in der Buchhandlung der Volkshochschule Leopoldstadt angestellt sein wird. Leopold Langhammer führt Hans in die Wiener literarische Intellektuellen-Szene ein. Nach Ende des Nationalsozialismus wird Leopold Langhammer - nun Hauptreferent für Volksbildung - versuchen, Hans Maier nach Wien zurückzuholen. Maier lehnt ab: »In a Wirtshaus, aus dem ma aussigschmissn worn is, geht ma nimmer eini«.
Neben der Tätigkeit an der Wiener Volkshochschule geht Hans Maier ambitioniert der Schriftstellerei nach, gibt mit einem Freund, Ernst Mayer, eine Literaturzeitschrift mit dem Titel Die Brücke heraus und schreibt an einem Roman – Die Schiffbrüchigen. Diese Arbeit findet durch die Flucht mit seiner Frau nach Antwerpen ein vorzeitiges Ende.

In Wien heiratet Hans Maier 1937 Regine Berger-Baumgarten, weshalb er wieder in die Jüdische Kultusgemeinde eintritt, die er 1935 verlassen hatte. Im Essay Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein beschreibt Améry sein Verhältnis zum Judentum: Dieses erweist sich als ein schwieriges, da er mit Juden weder ein religiöses Bekenntnis, noch jüdische Kultur oder Familientradition, noch Nationalideal teilt. Ihm ist bewusst, dass seine Familie den Nachbarn als jüdische gilt, wobei dieses Attribut jenem‚ der Sohn eines bankrotten Wirtes zu sein, gleicht. Positiver Bezug aufs Judentum ist ihm gänzlich verwehrt. Der Zwang ergibt sich aus den Nürnberger Gesetzen von 1935, die auf ihn zutreffen und ihn dem Tod versprechen und zwar »schon mitten im Leben.« Des Juden »Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist.«

Seit 1935 ist Hans Maier ein Toter auf Urlaub, und »bis heute geblieben«. Der Flucht nach Belgien 1938 folgen Internierung als feindlicher Ausländer in Südfrankreich, abermalige Flucht, Widerstand in Brüssel, Festnahme aufgrund einer »Flugzettelaffäre«, Folter und Deportation nach Auschwitz am 15. Jänner 1944. Am 15. April 1945 wird er in Bergen-Belsen befreit. »Mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug« betritt Hans Maier am 29. April 1945 die Welt von Brüssel, wo er nach monatelanger Ungewissheit erfährt, dass Regine Maier höchstwahrscheinlich 1944 im Brüsseler Versteck verstorben ist: [Es ist mir] »noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tode des einzigen Menschen um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach gehalten hatte.«
Nach einigen Überlegungen lässt sich Hans Maier in Brüssel nieder. Ab 1946 veröffentlicht er unablässig in verschiedensten schweizer und niederländischen Zeitschriften Reportagen, die nur ein knappes Auskommen ermöglichen. 1954 heiratet Hans Mayer Maria Leitner (geborene Eschenauer), im selben Jahr nimmt er als Zeichen der Verbundenheit mit Frankreich, dessen Linke, der Résistance und insbesondere Jean-Paul Sartre den nom de plume Jean Améry an.

Die Publikation von Jenseits von Schuld und Sühne katapultiert Jean Améry 1966 in das Zentrum der deutschsprachigen Öffentlichkeit, »die Aktie J.A.« wird eine Zeit lang »an den Börsen der Nation zu Schwindel erregenden Preisen gehandelt« (Horst Krüger). Der erste der fünf Essays behandelt die spezifische Kondition eines deutschsprachigen Intellektuellen in Auschwitz, der zweite Essay setzt sich mit dem Erlebnis der Folter auseinander. Es folgen je ein Essay über das Altern im Exil, das Ressentiment gegenüber den Deutschen und sein Verhältnis zum Judentum.

An Jean-Paul Sartres Überlegungen zur Judenfrage angelehnt, formuliert Jean Améry darin: »Nicht die Antisemiten gingen mich an, mit meiner Kondition hatte ich fertig zu werden« und führt aus: Antisemitismus betrifft ihn nur insofern, als dass die Dramaturgie des Antisemitismus weiterbesteht und »eine neuerliche Massenvernichtung von Juden […] als Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden« kann. Antisemitismus erscheint in vielen Formen: als bloße Toleranz gegenüber Juden, in Form lächerlicher Freiheitsstrafen, zu denen NS-Verbrecher – wenn überhaupt – verurteilt werden, in Form eines Antizionismus, den sich arabische Rechte und europäische Linke, teilen, ersichtlich auch in der ihnen gemeinsamen Diktion: »Brückenkopf des Imperialismus«, »Ausgeburt des Finanzkapitalismus« oder »Verbrecherstaat«. Dagegen erkennt Jean Améry in Israel den notwendigen Zufluchtsort für alle Juden der Welt. Bereits 1969 warnt er in »Der ehrbare Antisemitismus«: »Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke« gewinnt wieder an Boden. Die Drohung, man werde die Juden zurück ins Meer treiben, klinge »Juda verrecke« zu ähnlich, um sich in Sicherheit zu wiegen und der Beifall auf den europäischen Rängen gibt Anlass zu Besorgnis. Denn: »Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden.«

Anna M. Liebmann verfasste zum Abschluss ihres Philosophie-Studiums an der Universität Graz die Diplomarbeit mit dem Titel »Jean Améry (1912-1978). Eines engagierten Aufklärers Abkehr von der europäischen Nachkriegsphilosophie.« und ist derzeit bei Radio FRO als Programmkoordinatorin beschäftigt.

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