Theologie der Hölle
Ahmad Mansour rückt mit seinem Bestseller vieles zurecht, was an Verharmlosendem über den Islamismus kursiert.
Der Psychologe beschreibt aus der sozialen Arbeit die Bedingungen, in denen sich Jugendliche radikalisieren. Was Mansours Buch zu einer wirklich angenehmen Lektüre macht: Er nutzt an keiner Stelle die eigene palästinensische Identität anders als für die Kritik der palästinensischen Gesellschaft. Er selbst hat sich als Jugendlicher im Westjordanland radikalisiert und wandte sich dann im Studium in Israel vom Djihadismus ab. Mansour veranschaulicht an drastischen Bildern Antisemitismus und Sexualfeindlichkeit in der palästinensischen Gesellschaft. Kinder werden für jede intellektuelle Regung, die sich am Rätsel Sexualität entzündet, mit Höllenstrafen aus dem Koran und mit Körperstrafen bedroht. Mädchen und Jungen unterliegen einer ängstlich-autoritären Überwachung, die sie von vorehelichem Geschlechtsverkehr abhalten soll. Der ödipale Machtkampf mit einem überstrengen Vater führt »zur Entwicklung eines strengen, eifernden und intoleranten Über-Ichs«, (105) das dann mit dem »salafistischen Gott-Phantom« ein »kompensatorisches Angebot« erhält. (108) Gerade islamistische Zirkel bieten dann einen Zugewinn an Mobilität und die Möglichkeit, den Vater durch einen mächtigeren Vater zu ersetzen. Zentral dafür ist die meist homoerotische Identifikation mit peer-groups und Imamen als Ersatz-Autoritäten. Sexualität wird auch von diesen unterbunden. Wie in neurotischen Expansionen werden schließlich selbst Kleinkinder in Tschadors gesteckt, weil sie in Sommerkleidchen »unzüchtig« gekleidet seien, (126) Frauen dürfen weder Bananen essen, noch am Eis lecken. (130) In einem bemerkenswerten Verweis auf die weibliche Ödipalität erklärt Mansour, warum sich Frauen dennoch den Djihadisten anschließen: Weil ihnen hier die Möglichkeit geboten wird, »eine bessere Muslima« als die Mutter zu sein. (131) Und gerade vormals nicht besonders religiöse Männer und Frauen erhalten schließlich vom Djihadismus das Angebot, mit dem Märtyrertod ihre Sünden zu annullieren – und dürfen vor dem Märtyrertod kräftig »sündigen«. (131) So enthält sein gelungenes Psychogramm in anschaulichen Beispielen, was man als die klassische Trias der Gewalt bezeichnen könnte: gescheiterte Ödipalität, maligner Narzissmus, verdrängte Homosexualität.
Aus seiner Praxis berichtet er, wie in Deutschland doppelzüngige Salafisten durch staatliche Mittel gefördert wurden, (197f) während Ausstiegsprogramme mit kurios kleinen Budgets von übergroßen Erwartungen unter Druck gesetzt wurden. (237) Wie schon zu Zeiten der kolonialen »indirect rule« wünscht man sich in der Politik heute wenige Ansprechpartner mit viel Autorität und wählt sich daher die konservativen Verbände. (202) Was Mansour als reife Antwort auf den Islamismus in Deutschland fordert, ist nicht weniger als ein kompletter Umbau des pädagogischen Systems: Intensivierter weltpolitischer Unterricht (222) und die Ersetzung des Religionsunterrichts zu einem Unterricht über alle Religionen. (225) Wie die säkularen Alternativen Ethnologie und vergleichende Religionswissenschaften allerdings den Kirchen den Religionsunterricht entreißen könnten, die im lukrativen Lehrberuf ihre Theologie-Studenten unterbringen, lässt Mansour verständlicherweise offen. Von Lehrpersonal erwartet Mansour, vorauseilende Identitäts-politik abzustellen, mit der palästinensische Schüler beispielsweise vom Ausflug zu Holocaust-Gedenkstätten ausgeschlossen werden. (217) In der Deradikalisierungsarbeit dagegen dürfe man nicht mit »Konfrontation beginnen«, (218) sondern müsse auch »krause Ideen« aushalten, zuhören und erst dann mäeutisch und vor allem biographisch arbeiten. (21) Weiters schlägt Mansour vor, die soziale Durchmischung (221) an Schulen zu fördern und »Gegennarrative im Internet« (229) zu erstellen.
Kritik
Problematisch an Mansours Buch ist, dass er die Möglichkeiten einer Reformierbarkeit des Islam schönt. Er will eine Religion, die auf »Allah den Barmherzigen, den Mitfühlenden« baut. (129) In einem Interview klagt Mansour:
»Ein Allah wird den Kindern geschildert, der zornig ist, keinen Zweifel zulässt, keine Selbstentfaltung duldet, eine schreckliche Hölle schafft. Ein patriarchaler Gott aus dem Mittelalter, der Gehorsam und Hingabe fordert. Das ist ein brutaler und furchterregender Fundamentalist, der mit Allah, dem Barmherzigen, kaum etwas gemein hat.«1
Das hat seinen Grund. Zwar beginnt jede Sure mit der Basmala: »Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!« Fast jede der 115 Suren schildert aber dann Höllenfeuer und Bestrafungen. Allah ist eben einfach kein barmherziger Allerbarmer. Er straft im Koran permanent, er straft »gerecht« und »jedes Vergehen«: im Diesseits mit Feuer, Erdbeben, Kometen, Kriegsniederlagen und 80-100 Peitschenhieben, im Jenseits mit der Hölle.
»Sonst würde doch kein Mensch an etwas glauben und sich keiner an die Regeln halten!« legitimiert einer der Jugendlichen, mit denen Mansour arbeitet, die redundanten Höllendrohungen. (21) Der Mohammed als Autor des Korans kann seine Religion nur durch eine permanente Theologie der Hölle etablieren, sonst wäre der doch sehr dürre Inhalt kaum attraktiv. Daraus erwächst die Dialektik von Bestrafung, Zerstörung, Dogma und Glaube, in die der Islam eingetreten ist. Je stärker der Zweifel an der Reichweite des Werks wird, desto mehr muss die Welt der Hölle angenähert werden, desto mehr muss der Terror des Jenseits schon in der Realität vollzogen werden: Die Ungläubigen dürfen, sollen, müssen im Feuer brennen, von dem fast jede Sure zu berichten weiß. Die Aufpeitschung der sadistischen Vorlust durch Apokalyptik ist für den Koran derart zentral, dass hier nicht von einem echten Interpretationsspielraum gesprochen werden kann. Dahingehend hat Mansour auch dem jungen Radikalisierten wenig entgegen zu setzen, der seinen Koran gelesen hat und theologisch absolut korrekt sagt: »Was im Koran steht, ist eindeutig. […] Da kann man nichts interpretieren.«
Mansour bedauert: »Neue, zeitgemäßere Deutungen des Koran, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Geschichte des Islam dürfen weder gelesen noch diskutiert werden.«2
In den islamischen Gesellschaften stehen aber nicht die Salafisten für »tradierte Inhalte, ein veraltetes Islamverständnis« (120). Der modernisierende Salafismus kann mithilfe von Alphabetisierung und Koranübersetzungen den Hauptkonkurrenten, den tradierten, esoterischen Sufismus theologisch sehr einfach aushebeln. Ob quietistisch oder djihadistisch, der Salafismus ist nicht eine »tradierte« Verzerrung des Islam, sondern er ist theologisch auf dem neuesten Stand. Wenn die Jugendlichen der »Generation Allah« Angst haben, sich Ungläubige, die »Verlierer«, zu Freunden zu nehmen, so handeln sie strikt nach den Suren 5, 55; 60:10, 68:15. Wenn sie sie töten, handeln sie unter anderem nach 33:60 und 47:5. Die beiläufige Tötung eines Nichtgläubigen zum Schutz vor Ansteckung der gläubigen Eltern mit Zweifeln findet sich in Sure 18:80. Barmherzig sind die Gläubigen zu sich selbst, hart gegen die Ungläubigen, (48:25) und das gilt stets auch für Allah.
Wenn ein Reformislam entsteht, so wäre Mansour aller Erfolg zu wünschen. Die Wahrheit über die Grenzen der Reformierbarkeit sprechen aber Tariq Ramadan und Konsorten, die allenfalls einen quietistischen Salafismus zustande bringen. Das Problem Mansours, »den Koran neu zu interpretieren, neu zu lesen, aus heutiger Sicht« (23) bedeutet nichts weniger als einen Großteil des Koran zu verwerfen. Und das ist theologisch unmöglich. Er ist ein literalistisches Werk, dessen Inhalt auf ewig gelten soll. Im Diesseits garantiert er politische Machtausübung, Strafen gibt er mit Handabhacken und Peitschenhieben unmissverständlich vor. Lediglich in den Fragen Purdah, Tschador und Alkoholgenuss öffnet eine Re-Lektüre Verhandlungsspielräume. Dann aber droht schon das nächste theologische Schlachtfeld der Hadithen.
Der Koran, werkimmanent gelesen, wendet sich sehr aktiv gegen jeden Reformversuch, gegen den Zweifel, gegen das Denken an sich. Der mächtigste Zauberer (Moses) gewinnt, wer die »deutlichsten Zeichen« sendet (Mohammed) hat Glaubwürdigkeit verdient. Das ist Ausdruck der Wesensverwandtschaft von Positivismus und Okkultismus. Der sichtbare Zauber wird zum Faktum, wer ihn nicht sofort glaubt, ist im Koran allerdings nicht nur ein Narr, sondern ein böser Mensch. Und das ist dann auch unabänderlich. Eigentlich haben die Gläubigen gar keine Wahl, sie wurden von Allah als Gläubige erschaffen oder als Ungläubige. Mit diesem Determinismus tröstet sich Mohammed, der von Geistern besessene Poet, der ständig beteuern muss, beides nicht zu sein, über die Verachtung seiner Zeitgenossen hinweg.
Vielleicht braucht Mansour diese Flunkerei vom barmherzigen Gott, die Umdichtung des Korans zum Christentum. Vielleicht sollte man ihm dieses trojanische Pferd nicht enttarnen, das er für die Deradikalisierungsarbeit dringend braucht: Trotz aller Kritik noch »Muslim« zu sein und kein Ex-Muslim. Man darf ihn aber auch beim eigenen Wort nehmen: »Eine differenzierte Debatte mitten in der Gesellschaft tut not, eine Debatte, die klare Worte nicht scheut.«3
Es ist schlichtweg nicht wahr, wenn Hoffnungen auf eine Reform des Islam geweckt werden, die den Kern, den Koran, ausspart oder idealisiert. An Mouhanad Khorchide, Mansours theologischem Fluchthelfer, (248) stellt sich die Frage, ob durch die christliche Maske des Islam wirklich der Islam verändert wird, oder ob nicht vielmehr der islamistische Kern des Islam getarnt wird. Die Salafisten sind hier moderner als die postmodernen, »diskursiven« Lesarten des Islam, die ihr Narrativ auf eine sehr wackelige Grundlage von gerade einmal 20 mit Mühe als liberal oder sozialdemokratisch lesbaren Versen (nicht Suren) im Koran stellen und dabei das Gros der Schrift zensieren. Aus dieser Zensur erklärt sich die Überraschung, in der Khourchide völlig zu Recht konstatiert, dass Hamed Abdel-Samad wie ein Salafist klinge, wenn er ebenso völlig zu Recht die »faschistische Idee« des absoluten Gehorsams, die Feindschaft gegen den Zweifel im Koran dominieren sieht. Das Dilemma einer aufgeklärten Korankritik ist, dass sie den Salafismus theologisch nur bestätigen kann. Allein mit Hilfe der im Islam zur Perfektion gebrachten Winkelzugstheologie kann Khourchide im Strafenden den relativen Gott, im Barmherzigen aber den absoluten sehen. Vom seinem »Glaube Gottes an den Menschen«4 bleibt nicht viel übrig, der koranische Determinismus sieht so etwas nicht vor.
Der paradoxe Verlauf der Geschichte gibt jedoch Mansour Recht, der dahingehend vielleicht das, was der islamischen Kultur möglich war, mit dem, was theologisch möglich ist, verwechselt. Der Islam war schließlich über Jahrhunderte reformiert worden, teilweise bis hin zur Unkenntlichkeit. Die Kalifen, denen der Koran nicht genug war, suchten in der griechischen Philosophie nach Intellektualität. Dass die meisten Muslime in den Jahrhunderten der islamischen Herrschaft über nichtarabische Gebiete den Koran nie gelesen oder verstanden haben, bot realistischeren Gesellschaftsentwürfen und sogar Aufklärung prinzipiell Reservate und Angriffsflächen. Genauso aber bietet diese Situation den gebildeten Salafisten heute die Möglichkeit, den Koran unter den hunderten Millionen afrikanischen, indischen und südostasiatischen Muslimen zu verbreiten und den »Ethnos Islam« auf die Theologie zu verpflichten. Das ist die aktuelle Dialektik der islamischen Aufklärung.
Der Kampf gegen den radikalen Islam hat aus denselben Gründen primär einer FÜR die Muslime zu sein, für die 1 Milliarde Menschen, die in den Islam und oft in entmündigende Verhältnisse hineingeboren wurden. Die Religionskritik des Islam legitimiert nicht dazu, dem kollektivistischen Ressentiment und dem Hass Reservate einzurichten. Muslime müssen aufgeklärt werden, aktiv und auch in den islamischen Ländern. Den Islam als Problem der Peripherie zu behandeln, ist blanker Wahnsinn, gegen den Mansours Werk eine wertvolle Kur darstellt.