Warum uns Psychotherapie nicht weiterhilft

Ein Plädoyer für die Psychoanalyse

Beginnen wir mit einer fiktiven Geschichte. Eine junge Architektin, verheiratet, erfolgreich, Mutter einer Tochter, begibt sich in psychiatrische Behandlung. Sie leidet an Panikattacken. Ihr Psychiater beginnt eine medikamentöse Therapie, die nach eineinhalb Jahren unterbrochen wird, da die Patientin aus beruflichen Gründen ins Ausland geht. Zwei Jahre später kehrt die Patientin in ihren Heimatort zurück und meldet sich wieder bei ihrem – ehemaligen – Psychiater. An Panikattacken leide sie nicht mehr. Nun aber habe sie den Wunsch sich in Psychoanalyse zu begeben – ihr »alter« Psychiater arbeitet auch als Psychoanalytiker. Sie durchlebe gerade eine »Partnerkrise«, gleichzeitig mit einer »beruflichen Identitätskrise«. Unser Psychiater weist auf den Konflikt zwischen seiner früheren Rolle als Arzt und seiner Rolle als Analytiker hin – willigt aber ein, die Patientin in Analyse zu nehmen. Bald fällt auf, daß die Analysandin immer zu spät zu den Sitzungen kommt. Diese beginnen zwanzig, dreißig, sogar vierzig Minuten zu spät. Das scheint umso erstaunlicher, als die Patientin während der psychiatrischen Behandlung stets pünktlich gewesen war.
Die Versuche des Analytikers, das Problem, das eine Fortsetzung der Analyse ernsthaft gefährdet, auch nur zu benennen, scheitern am Widerstand der Patientin. Sie kenne ihr »Zeitproblem«, das ihre Freundinnen regelmäßig zur Weißglut bringe, habe es in einer früheren Therapie – einer Gesprächstherapie – »analysiert« und wolle sich nicht mehr damit konfrontieren. Für sie sei ihr Unpünktlichsein ein Stück Freiheit, das sie sich nicht nehmen lasse, sie sei bereit, den Preis dafür zu bezahlen – und basta.
Unser Analytiker sei Teilnehmer einer Intervisionsgruppe, wo er die Möglichkeit hat, mit Kolleginnen und Kollegen Fälle zu besprechen. In dieser Gruppe wird ihm klar, wie sehr das »Zeitproblem« der Analysandin auch für ihn ein Problem ist: Nicht zuletzt, indem es seine Arbeit stört – und dies in einem spezifischen Sinn. Anders als in der herkömmlichen Rollenverteilung zwischen einem Produzenten (sagen wir einem Tischler) und seinem Kunden ist der Analysand nicht bloß Kunde und Konsument eines vom Psychoanalytiker (als Produzenten) produzierten Ware. Das »Produkt« der psychoanalytischen Behandlung sollte ja eine wie immer geartete Veränderung »im« Analysanden/Patienten sein. So gesehen, ist der Analysand nicht bloß Kunde, sondern zugleich Arbeitsgegenstand (das würde dem Holz des Tischlers entsprechen). Und weil in der Psychoanalyse das Reden das Arbeitsmittel darstellt, und es in der Regel der Analysand ist, der den Großteil der Rede-Arbeit leistet, ist der Analysand auch das Arbeitsmittel (vergleichbar der Kreissäge des Tischlers). Vor allem aber ist der Analysand ein – sich selbst bearbeitender – Arbeiter bzw. Produzent – also Tischler und Kunde zugleich.
Und was macht der Analytiker?
Die Psychoanalyse, so ein dem Psychoanalytiker Jaques Allain Miller zugeschriebenes Bonmot, sei besser als der Kapitalismus. Denn während der Kapitalist dem Arbeiter immerhin einen Lohn zahle, lasse der Psychoanalytiker die Analysanden arbeiten, und bekomme dafür auch noch bezahlt ... Aber ich greife vor: Die Diskussion unserer Intervisionsgruppe über das Zeitproblem der Analysandin dreht sich bald um einen psychoanalytischen Grundbegriff: Die Übertragung. Die Gruppe hat seit kurzem ein neues Mitglied: Eine Soziologin – oder Politologin? Oder Philosophin? So genau weiß das die Gruppe nicht. Und keiner traut sich zu fragen.
Die Neue scheint unnahbar.
Die Neue arbeitet nicht als Psychoanalytikerin. Dafür scheint sie, wie die Gruppe bald und mit gemischten Gefühlen feststellen muß, alles über die Theorie der Psychoanalyse zu wissen. Wir nennen sie die Theoretikerin. Die Diskussion dreht sich also um den Begriff Übertragung. Darüber, daß es sich beim Zeitproblem der Analysandin um Übertragung handelt, scheinen sich alle einig zu sein.
Dann stellt die Theoretikerin eine simple Frage: Was ist – Übertragung?
Übertragung, so die zunächst zögerliche Antwort der Gruppe, bezeichne jene Gefühlsreaktionen des Analysanden auf die Analytikerin, die eine Neuauflage früherer Erfahrungen darstellten. Dabei übertrage der Patient Beziehungsmuster aus der Kindheit auf die Beziehung zur Analytikerin – und wiederhole sie somit. Ähnlich wie er jene Reaktionen und Muster auch auf andere zwischenmenschliche Situationen übertrage, und sich so immer wieder im gleichen – in der Regel schlechten – Film wiederfinde. Indem der Patient diesen schlechten Film nun auch in der Beziehung zur Analytikerin spiele, habe er die Chance auf eine korrektive Erfahrung.
Das alles hat, genaugenommen, nicht die Runde gesagt, sondern ein Analytiker, den wir den Lösungsorientierten nennen wollen. Nun stellt die Theoretikerin eine weitere Frage: Und – wo bleibt das Unbewußte?
Sie habe in den Aussagen des Lösungsorientierten das Wesentlichste – eben das Unbewußte – vermißt. Und sie beginnt, ohne die Reaktion des Lösungsorientierten abzuwarten, von einer Analysandin zu berichten (nennen wir sie Analysandin B – und unsere Analysandin mit dem »Zeitproblem« Analysandin A), die den starken, für sie selbst und ihren Analytiker unverständlichen Impuls verspürte, die Analyse vorzeitig abzubrechen. Der Impuls schien umso unverständlicher, als sich die Analysandin gerade in einem schwierigen Trennungsprozeß von ihrem Lebensgefährten befand. Ein Prozeß, der sie verwirrte und viele Fragen aufwarf, zu deren Klärung die Analyse doch hätte beitragen können.
Es stellte sich aber heraus, daß genau jener Trennungsprozeß von ihrem Lebensgefährten den Impuls, die Analyse zu beenden, ausgelöst hatte. Hätte Analysandin B die Analyse tatsächlich abgebrochen, wäre diesem Abbruch der Charakter einer Ersatzhandlung zugekommen: Statt den Ausstieg aus einer unglücklichen Beziehung zu wagen, aus der sie sich nicht und nicht zu lösen vermochte, hätte sie »mit dem Analytiker Schluß gemacht«.
»Wir haben es hier«, sagt die Theoretikerin, »mit dem typischen Fall einer Übertragung zu tun – einer, wie Freud sagen würde, falschen Verknüpfung zwischen den Schauplätzen Analyse und unglückliche Partnerbeziehung.« Wobei die unglückliche und ambivalente Partnerbeziehung ihrerseits wiederum als Ergebnis der Übertragung der unglücklichen und ambivalenten Vater-Beziehung der Analysandin aufgefaßt werden müsse.
Wesentlich an der Übertragung, so die Theoretikerin, seien also weder »Beziehungsmuster« noch Gefühle. Diese würden im Fall des skizzierten Übertragungsgeschehens überhaupt keine Rolle spielen. Hier unterbricht der von uns »der Lösungsorientierte« genannte Analytiker die Theoretikerin. Gerade der geschilderte Fall, von dem er nicht wisse, aus welchem Kontext er stamme, aber das möge jetzt dahingestellt sein, zeige – im Gegenteil – daß es in der Übertragung »sehr wohl und sehr zentral« um Gefühle und um Beziehung ginge. Habe doch die in Frage stehende Analysandin B jene Trennungsaggression, die sie ihrem Lebensgefährten nicht zumuten konnte, auf die Beziehung zu ihrem Analytiker übertragen.
»Mitnichten«, sagt die Theoretikerin. Die Haltung der Analysandin dem Analytiker gegenüber könne durchgehend als »milde Idealisierung« beschrieben werden. Und diese milde Idealisierung habe sich weder während noch nach der Aufklärung der unbewußten Hintergründe ihres Impulses, die Analyse abzubrechen, verändert. Gegenüber der Person des Analytikers habe die Analysandin keine Sekunde lang so etwas wie Aggression verspürt.
Und auch wenn Beziehungsmuster und Gefühle in anderen Übertragungssituationen eine andere und größere Rolle spielen sollten als im Fall der Analysandin B, seien Gefühle und Beziehungsmuster für die Übertragung eben nicht das Wesentliche. Der Psychoanalytiker sollte sie als Symptome auffassen, und sich an die Aufklärung ihrer unbewußten Determinanten machen.
Was für den »Analyse-Abbruch-Impuls« der Analysandin B gelte – gelte natürlich auch für das »Zeitproblem« der Analysandin A. Wenn diese meine, sie kenne ihr »Zeitproblem«, das ihre Freundinnen zur Weißglut bringe, ihr Unpünktlichsein sei ein Stück Freiheit etc., gebe sie sich der Illusion hin, ihr Verhalten sei selbstgewählt. Und – es handle sich, wenn sie zur Analyse oder zum Kaffeekränzchen zu spät komme – um eine bewußte Entscheidung. Damit verleugne sie den Symptomcharakter ihres Verhaltens, dessen Abhängigkeit von Faktoren, die ihr selbst nicht bewußt sind. Indem sie ihr Zuspätkommen zum Kaffeekränzchen mit dem Zuspätkommen zur Analysestunde verknüpfe – vertrete Analysandin A zwar eine Art Übertragungskonzept. Aber ein Übertragungskonzept, das über den Bereich bewußter Vorstellungen und Entscheidungen nicht hinausgehe. Analysandin A, so die Theoretikerin, und der von uns »der Lösungsorientierte« genannte Analytiker würden somit genau den selben Fehler begehen.
Hier sollten wir aber innehalten und uns fragen, woher wir und die Theoretikerin und der Rest der Runde überhaupt wissen, daß es sich beim »Zeitproblem« unserer Analysandin um Übertragung handelt.
Folgt man der Rede Freuds von der falschen Verknüpfung, bedeutet Übertragung die Übertragung einer – unbewußten – Vorstellung von einem ursprünglichen, »richtigen« Ort auf einen neuen, »falschen«.1 Klassischerweise von der Ursprungsfamilie auf die analytische Behandlungssituation. Als »falsch« gilt diese Verknüpfung deshalb, weil Eigenschaften, die zu einem ursprünglichen, »richtigen« Ort oder Objekt gehören, fälschlich mit einem anderen, neuen Ort oder Objekt verknüpft werden. Der Analytiker wird nicht in der Weise wahrgenommen, »wie er wirklich ist«, sondern die Analysandin verknüpft mit ihm – unbewußt – Vorstellungen, die sie ursprünglich mit Mutter, Vater, Schwester etc. verknüpfte. Weiter oben haben wir gesehen, daß das »Zeitproblem« der Analysandin A, insofern es seine Arbeit stört, auch das Problem ihres Analytikers ist. Psychoanalyse ist als Ort der Behandlung zugleich Arbeitsplatz: Für den Analytiker, und gewiss auch für die Analysandin. Wie wir sehen werden, könnte sich der Ansatz der Psychoanalyse als Arbeit bei unseren Überlegungen zur Übertragung und der Frage, ob es sich beim Zeitproblem der Analysandin um Übertragung handelt, als fruchtbar erweisen. Daß es so etwas wie Übertragung von der Familie auf den Arbeitsplatz gibt, gehört heute zu jenen psychoanalytischen Gemeinplätzen, derer wir uns im Alltagsleben bedienen, um uns über die – vermeintliche oder tatsächliche – Psychopathologie desselben zu verständigen: »Ich habe einen Vaterkomplex. Der läßt mich immer wieder mit meinem Chef zusammenkrachen.«
Die Figur des autoritär-patriarchalen, psychoanalytisch gesprochen ödipalen Chefs gehört allerdings der Vergangenheit an. Der typische, »postmoderne« Chef von heute ist nicht die erhabene Vaterfigur an der Spitze der Firmenhierarchie, nicht einmal der große Bruder, sondern jemand wie der von Slavoj Žižek als Small Brother bezeichnete Bill Gates. Der nette Kumpel von nebenan, mit dem man, oder auch frau, gern auf ein Bier geht. Und über den man sich, ob seiner Nettigkeit, Kumpelhaftigkeit, Lässigkeit und nicht-autoritären Haltung nicht einmal ärgern darf, geschweige denn, daß man mit ihm zusammenkrachen würde. Es sei denn im Rahmen eines Seminars zur Pflege von »Konfliktkultur«.
Was wir über die Nettigkeit, Kumpelhaftigkeit und die nicht-autoritäre Haltung eines Chefs, über den man sich nicht einmal ärgern darf, gesagt haben, ist ein Zitat. So oder ähnlich hat einmal Analysandin A ihren neuen Chef in der Analyse beschrieben – um ihn mit ihrem ehemaligen Chef zu vergleichen: »Mein alter Chef hatte einen konventionellen, ein wenig autoritären, aber nicht wirklich strengen Führungsstil.« Dann wird ihr etwas klar: Daß sie während der psychiatrischen Behandlung genauso viel Zeitdisziplin an den Tag gelegt hatte, wie unter ihrem alten Chef. Unter dem neuen Chef sei sie hingegen genauso unpünktlich wie in der Analyse.
Zwar gäbe es unter dem Neuen ohnehin keine fixen Arbeitszeiten, sie komme ins Büro (die Analysandin arbeitet in einem Büro für Landschaftsarchitektur) und verlasse es, wann immer sie wolle. Zu den gelegentlich stattfindenden Projektbesprechungen erscheine sie aber fast immer, und oft massiv, zu spät.
In der folgenden Sitzung sagt sie, sie könne sich nicht erinnern, je zu spät zur Schule gekommen zu sein. Ihre Klarinettenlehrerin habe aber unter ihrer Unpünktlichkeit so sehr gelitten, daß ihr Vater sie fallweise zum Klarinettenunterricht begleiten mußte. Es sei ja übrigens auch ihr Vater gewesen, ein leidenschaftlicher Musikliebhaber, der die Idee gehabt hätte, die damals Achtjährige zum Klarinettenunterricht zu schicken. Sie korrigiert sich: »Nein, das Klarinettenspielen war mein eigener Wunsch – oder?« So genau wisse sie das nicht mehr. Und dann: »Ich habe seit jeher das Gefühl, daß ich das, was mein Vater von mir will, nicht nur befolgen, sondern auch mögen, ja wünschen muß.« »Der Wunsch Ihres Vaters«, sagt der Analytiker, »soll Ihnen nicht nur Befehl – er soll auch Ihr Wunsch sein.«
Verlassen wir an dieser Stelle den Schauplatz der Analyse, und kehren zur Intervisionsgruppe zurück, die sich nun, vier Wochen später, wieder trifft. Am Wort ist der Lösungsorientierte. Er meint, daß die Unpünktlichkeit der Analysandin im Klarinettenunterricht, unter dem neuen Chef und in der Analyse einer »klassischen Übertragungsreaktion« entspreche. Die Analysandin behandle den Analytiker genauso wie ihren neuen Chef und die Klarinetten-Lehrerin. Ihre Unpünktlichkeit drücke in allen drei Fällen ihre ambivalente Vater-Beziehung aus. Indem nun die Analysandin auch in der Analyse die Unpünktliche »spiele«, habe sie die Chance auf eine korrektive Erfahrung – und könne so ihre Unpünktlichkeit überwinden. »Darum, daß die Analysandin ihre Unpünktlichkeit überwindet, geht es vielleicht gar nicht«, kontert die Theoretikerin, »Sie denken lösungsorientiert, nicht analytisch. Wir sollten uns, noch bevor wir nach Lösungen suchen, fragen, ob wir wissen, oder wissen wollen, was überhaupt das Problem ist. Vergessen wir nicht: Das Zeitproblem zeigt sich nicht in allen Situationen, in denen die Analysandin mit sogenannten Vater-Figuren konfrontiert ist. Wir müssen also nach den spezifischen Bedingungen suchen, die das Problem auslösen.«
Bevor wir die Theoretikerin weitersprechen lassen, sollten wir erwähnen, daß der Analytiker zuvor von der Partnerkrise der Analysandin berichtet hat, jenes andere Problem, das sie veranlaßt hatte, in Analyse zu gehen. Ihr »eheliches Sexualleben«, so die Analysandin, sei »halbwegs o. k.« gewesen, bis sich ihr Mann ihren Wunsch nach mehr sexueller Experimentierfreude zu eigen gemacht hätte – oder umgekehrt, sie seinen? Das wisse sie nicht mehr.
Seither hätten sie jedenfalls Kreativsex. Am erregendsten fänden beide die Phantasie, daß sie mit einem anderen Mann Sex hätte. Aber seit sie »Kreativsex« habe, sei sie wie blockiert.
Jedesmal, wenn sie mit ihrem Mann schlafen wolle, bekomme sie Kopfschmerzen oder Brechreiz oder habe auf einmal keine Lust.
Behalten wir das im Gedächtnis. Und lassen wir die Theoretikerin weiterreden: »Wenn die Analysandin sagt, sie habe das Gefühl, daß sie das, was ihr Vater von ihr wolle, nicht nur befolgen sondern auch wünschen müsse, artikuliert sie ein typisches Gebot der Gegenwartskultur, ›Wo Befehl ist, soll Wunsch werden‹. Ein Gebot, das uns am auffälligsten in der Arbeitswelt begegnet. Es genügt heute bei weitem nicht mehr, einfach nur ›seinen Job zu erledigen‹ – es geht um ›mehr‹.
In Bewerbungsgesprächen etwa fragt man uns nicht mehr bloß nach unserer Qualifikation – Bewerbungsgespräche sind heute eine Art ›Seelenbeschau‹: gefragt sind Motivation, soziale Kompetenz, emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit, Verantwortungsgefühl, Kommunikationsfähigkeit. Vor allem sind wir aber aufgefordert, uns mit ›unserer‹ Arbeit zu identifizieren. Als verkauften wir nicht nur unsere Arbeitskraft, sondern unsere Seele.
Identifizieren heißt ›gleichmachen‹. Früher gingen wir in einer mehr oder weniger festgesetzten Zeit unserer Arbeitspflicht nach, um danach frei zu haben – heute machen wir uns mit der Arbeit gleich, sind also die Arbeit, und niemals frei von der Arbeit.
Das mag übertrieben erscheinen. Aber ähnelt die Situation eines Menschen, der sich heute um einen Job bewirbt und dessen Lebenslauf sich wie eine einzige Vorbereitung auf diesen einen Job liest, nicht der eines Liebenden, der das Gefühl hat, sein Leben bisher sei nichts als ein Vorspiel zu dieser einen großen Liebe gewesen?«
Und so wie – um die Theoretikerin zu unterbrechen – der einen, großen Liebe andere folgen mögen, so könnte auch unser Bewerber den Job, sollte er ihn antreten, bald wieder verlieren. Weil er eingespart werden muß. Tatsächlich scheint zwischen der Arbeitsplatzsicherheit und dem Gebot, sich mit Herz und Seele an die Arbeit zu binden, ein umgekehrtes Verhältnis zu herrschen.
Zurück zur Theoretikerin: »Unser Lebenslauf wird aber nicht von uns allein geschrieben. Er trägt immer auch die Schriftzüge unserer Eltern, Geschwister, Vorfahren, die sich ihm aber nicht bloß als einzelne Charaktere einschreiben, sondern auch als Repräsentanten der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die uns heute nicht mehr bloß das Funktionieren gebietet, sondern das Identifizieren mit ihren Anforderungen. Anforderungen, die auch in Bereichen jenseits der Arbeit – Familie, Partnerschaft, Sexualität, Freizeit – den Leistungsanforderungen der Arbeit nachempfunden und daher geeignet sind, uns auf die Sphäre der Arbeit vorzubereiten. Unsere gesamte Lebenszeit vor der Arbeit soll eine einzige Vorbereitung auf (diese eine) Arbeit sein. Und unsere Lebenszeit neben der Arbeit, die Freizeit, der Wiederherstellung jener Arbeitskraft dienen, die wir sind.
Vor diesem Hintergrund sollten wir unser Augenmerk hier nicht auf die Übertragung von der Familie auf den Arbeitsplatz richten, auf die Übertragung der Vater-Beziehung der Patientin auf den alten oder den neuen Chef, sondern umgekehrt die Familie als eine Sphäre betrachten, die uns auf die Arbeit vorbereitet, als einen Ort, an dem Beziehungen vorherrschen, die »von Haus aus« nach dem Vorbild der Arbeit gestaltet sind – in gewissem Sinn auf die Übertragung von der Arbeit auf die Familie. Familie dient ja nicht bloß der Reproduktion, sondern auch der Produktion von Arbeitskraft, und nicht bloß im Sinne der Fortpflanzung und der Erziehung von Arbeitskräften. Die Familie produziert heute Arbeitskräfte, die sich mit jenen Anforderungen, die den Leistungsanforderungen der Arbeit nachempfunden sind, identifizieren sollen. Den Fall unserer Analysandin halte ich in dieser Hinsicht für paradigmatisch. Wo Befehl war, soll Wunsch werden: Diese Formel bezeichnet ein Problem unserer Zeit, Und das Problem, das unsere Analysandin mit der Zeit hat, resultiert aus ihm. Jenes Zeitproblem tritt ja überall dort auf, wo ein Kurzschluß zwischen Wunsch und Befehl stattfindet. Sie weiß nicht, ob sie dem Befehl des Vaters entsprach, als sie Klarinette lernte, oder ob es doch ihr eigener Wunsch war. Jedenfalls scheint es zu einer Verschränkung von Wunsch und Befehl gekommen zu sein, aus der jene extreme Unpünktlichkeit im Klarinettenunterricht resultiert haben muß. Im Kontrast zu ihrer Pünktlichkeit in der Schule.«
Die Schule, hat der Analytiker am Beginn der Gruppensitzung berichtet, habe die Analysandin nur mäßig interessiert, »nicht leidenschaftlich«.
»In der Schule«, sagt die Theoretikerin, »gab es genügend Distanz zwischen den ›Befehlen‹ (den schulischen Anforderungen) und den Wünschen der Analysandin. Ihr Begehren blieb vom Unterricht unberührt. Sie konnte funktionieren. Auf den Klarinettenunterricht hingegen scheint ihr Unbewußtes mit einem radikalen Verweigerungsimpuls reagiert zu haben. Als wäre sie am liebsten gar nicht hingegangen. Und als sei die Unpünktlichkeit ein Kompromiß zwischen Wunsch und Wunsch: Zwischen dem Wunsch, sich mit dem Befehl des Vaters zu identifizieren, und jenem, diese ›feindliche Übernahme‹ des Wunsches durch den Befehl des Vaters zu sabotieren.
Die Situation unter dem neuen Chef ähnelt dem Klarinettenunterricht. Hier scheinen die Verhältnisse aber eindeutiger zu sein. Offenbar hat sich in diesem Fall der ›Befehl‹ (des neuen Chefs) dem Wunsch (der Analysandin) untergeordnet und nicht umgekehrt.«
Unter dem neuen Chef, auch das hat der Analytiker zu Beginn der Gruppensitzung berichtet, hat die Analysandin, was sie schon immer gewünscht hatte: Der neue Chef will – wir könnten auch sagen
»befiehlt« –, daß sie bei der Planung und Durchführung von Projekten ihre eigene Kreativität einbringen soll.
»Der Verweigerungsimpuls tritt aber offenbar auch dort auf, wo jemand, wie hier der neue Chef, umgekehrt auf ihre Wünsche eingeht, wo ihr Wunsch zum Befehl wird. Ob sich der Befehl dem Wunsch oder der Wunsch dem Befehl unterordnet, scheint also keine Rolle zu spielen. Offenbar wird der Verweigerungsimpuls, und mit ihm das Zeitproblem, immer dort ausgelöst, wo Wunsch und Befehl aneinandergeraten.
Wo die Distanz zwischen dem Befehl ›dort draußen‹ und dem Wunsch ›da drinnen‹ nicht mehr existiert. Was für die Gegensatzpaare: Schulunterricht/Klarinettenunterricht und alter Chef/neuer Chef gilt, gilt analog für das Auftreten des Zeitproblems in der psychoanalytischen und dessen Nicht-Auftreten in der psychiatrischen Behandlung.
Im Fall des Zuspätkommens in der Analyse gibt es aber eine zusätzliche Dimension. Wir haben den Wunsch der Patientin, sich in Analyse zu begeben – aber wo ist der Befehl?
Das massive Zuspätkommen in der Analyse könnte darauf hinweisen, daß jeder Wunsch, sobald er Wirklichkeit wird, mit den Strukturen der Wirklichkeit in Kontakt kommt, den Verweigerungsimpuls und das Zeitproblem auslöst. Das trifft auch auf den sogenannten Kreativsex zu. Zwar scheint die Analysandin beim Kreativsex kein Zeitproblem zu haben ...«
»Da muß ich widersprechen«, sagt der Lösungsorientierte, »die Analysandin hat ein massives Zeitproblem beim Kreativsex. Sie kommt nicht unpünktlich – sie kommt überhaupt nicht.«
»Eine treffende Formulierung«, sagt die Theoretikerin nach Abklingen des allgemeinen Gelächters, »Hier ist die Verweigerung kompromißlos. Sie kommt überhaupt nicht.
Warum? Weil ihr Mann ihr die Verwirklichung ihrer ureigensten sexuellen Phantasien ermöglichen will. Der ›Normalsex‹ war nicht die Offenbarung. Aber, so absurd das klingen mag, die Analysandin lief dabei nicht Gefahr, ihre Wünsche zu verwirklichen – und die Distanz zwischen den
sexuellen Normen ›dort draußen‹ und den Wünschen ›da drinnen‹ zu verlieren.
In einer vom Leistungsprinzip beherrschten Welt ist ›jede Wirklichkeit‹ den Anforderungen der Arbeit nachempfunden – und jeder Wunsch, sobald er Wirklichkeit wird, jenen Anforderungen ausgeliefert. Der Verweigerungsimpuls, den die Verwirklichung ihrer Wünsche bei der Analysandin auslöst, ist folgerichtig.
Für das Zeitproblem in der Analyse gilt das in einem noch spezifischeren Sinn: Die Psychoanalyse ist nicht bloß ein Segment der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das – indem sie die Wiederherstellung der Arbeitskraft zum Ziel hat – der Arbeit zuarbeitet. Psychoanalyse ist Arbeit. Und weil Psychoanalyse Arbeit ist – real, nicht bloß im Sinne der Übertragung – können die Leistungsanforderungen und Identifizierungsgebote, die unsere Gesellschaft beherrschen, am ›Arbeitsplatz Psychoanalyse‹ bei ihrer Entstehung beobachtet und bewußt gemacht werden. Und von wegen Identifizierungsgebot: Auch unser Kollege«, gemeint ist unser Analytiker, »macht nicht einfach nur seinen Job, er ist, wie wir alle,
mit seiner Arbeit identifiziert und bezieht daraus Selbstachtung.
Daher ist das Zeitproblem der Analysandin auch für ihn ein Problem.
Es kränkt ihn.«
»Gut«, sagt der Lösungsorientierte »Danke. Aber was machen wir nun mit der Patientin?«
»Falsche Frage«, sagt die Theoretikerin, »daß Sie ›machen‹ sagen, zeigt, wie sehr auch Sie, wie wir alle, mit jenen Arbeitsanforderungen identifiziert sind. Arbeitsanforderung ist übrigens ein Begriff, den Freud verwendet, um den ›Trieb‹ zu erklären. Aber lassen wir das. Wir sind beim Zeitproblem der Analysandin mit einem gesellschaftlichen Problem konfrontiert. Freud hätte gesagt, mit einem Problem der Kultur. Ohne eine kritische Theorie der Gesellschaft, der Arbeit, der Familie – vor allem aber der gesellschaftlichen Dimension des Unbewußten, ohne Kulturtheorie und Kulturkritik ist eine Analyse, die diesen Namen verdient, nicht möglich. Weder bei unserer noch bei anderen Analysanden. Freud, sagt Adorno, sei ›in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches gestoßen‹2. Aber nicht nur die Psychoanalyse ist stets mit gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, auch die Gesellschaft sollte ihre Probleme mit der Psychoanalyse konfrontieren: Warum es Antisemitismus gibt, wie der Faschismus die Massen dazu bewegt, nicht nur ihre Unterdrückung, sondern auch ihren Untergang zu begehren, warum sie – die Massen – heute Parteien wählen, deren Politik ihren Interessen diametral entgegengesetzt ist, und warum wir uns umso mehr ausbeuten lassen, je mehr wir mit unserer Arbeit identifiziert sind – diese und andere gesellschaftliche Rätsel, lassen sich ohne Psychoanalyse nicht lösen.
Dem Prozeß der Psychoanalyse als solchem ist es um Gesellschaft zu tun. Nicht nur um die gesellschaftliche Dimension des Unbewußten, sondern auch um die unbewußte Dimension der Gesellschaft, ohne deren Berücksichtigung gesellschaftliche Emanzipation zum Scheitern verurteilt ist – oder in Katastrophen mündet. So geschehen im zwanzigsten Jahrhundert.
Die Psychoanalyse von der wir reden, ist nicht die real existierende. Die Rede ist von einer Psychoanalyse, die sich nicht bloß auf ihre kulturkritische Tradition – als auf einen von der Klinik getrennten Teilaspekt – besinnt, sondern dem Analysanden und seinem Unbewußten in der analytischen Behandlung nicht therapeutisch begegnet – sondern kulturkritisch.«

Das »Plädoyer für Psychoanalyse« ist ein Kapitel aus dem Buch »Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht.« von Sama Maani.
Erschienen 2015 im Drava Verlag, 128 Seiten, 15,80 Euro. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

[1] Dies entspricht übrigens einer möglichen Definition von Metapher, dem Substantiv zu μεταφέρειν (metaphérein): übertragen.
[2] Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main. 2003, S. 88.

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