Briefe zur Revolution
Nach seinen Erzählbänden »Legenden und ein Söhnchen« sowie »Der wundersame Affe Fritz« legt Sebastian Vogt ein neues, erstaunliches Buch vor. Erzählte er in den beiden ersten Bänden von den Ländern des Orients und der Antike, so handelt der neue Band von einem fiktiven Staat östlich der Schweiz, der sich bis zum Schwarzen Meer erstreckt. In dem Land hat sich eine Diktatur etabliert. Ein absoluter Herrscher mit dem beziehungsvollen Namen Zarevic herrscht als zynischer Egomane über einen Staat, in dem ein Netz von Spitzeln das öffentliche Leben überwacht, die Medien gleichgeschaltet sind und jeglicher Widerstand im Keim erstickt wird. Die Gefängnisse sind voll, die Schulen halbleer – viele Jugendliche sind geflüchtet. Es gibt keine Zivilgesellschaft, die diesen Namen verdient, in der Nationalbibliothek hausen Obdachlose, mit den Büchern nähren sie ihre Lagerfeuer. Der Schleichhandel, über den die Menschen noch das Notwendigste angesichts einer zusammengebrochenen Ökonomie ergattern, wird von einem »Kartell«, das wiederum dem Regime nahesteht, organisiert. Vogt beschreibt die Versuchsanordnung eines mitteleuropäischen Donaufaschismus. In seiner präzisen und unprätentiösen Sprache hält der Autor die Balance zwischen Politmärchen und Science Fiction Realismus, sodaß man als Leser rasch in den Sog der Brieferzählung gezogen wird. Bald ertappt man sich dabei, viele kleine Binnenerzählungen aus dem Leben der Diktatur und so manches Detail – wie eine des Lesens entwöhnte männliche Jugend, die ihr Heil im Krieg, in der Flucht oder im politischen Freitod sucht – als bestürzend gegenwärtig zu orten. Vogt hat damit vorweggenommen, was der Profil-Herausgeber Christian Rainer seit dem Herbst 2015 in seiner Zeitschrift trommelt: die realistische Gefahr, daß in Österreich bei der drohenden Machtübernahme einer bekannt nicht-rechtsextremen Partei die Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens völlig neu geschrieben werden. Rainer ermahnt die demokratischen Kräfte den Zeitpunkt nicht zu übersehen, an dem die Koffer zu packen sind. Vogt geht noch einen Schritt weiter. Er beschreibt die Brutalität und Absurdität der entfalteten Diktatur, aus der nur die Schweiz noch einen Ausweg bietet.
Ochrana war der Name der zaristischen Geheimpolizei, die von 1871 bis 1917 blutige Ernte unter den Revolutionären im Zarenreich hielt und die antisemitischen Protokolle der »Weisen von Zion« produzieren ließ. Auch der österreichische Meisterspion Oberst Redl arbeitete für die Ochrana. Was Vogt mit dieser ans vorrevolutionäre Rußland gemahnenden Namenwahl bezweckt, wird bei fortschreitender Lektüre klar – es eröffnet sich ein beziehungsvoller Assoziationsraum, eine Erzählung in der Erzählung dieser verstörenden Zukunftsvision. Ein beeindruckendes Buch.
------------------------------------------------------------------------------------------------
Sebastian Vogt. »Briefe zur Revolution«, Erzählung.
Resistenz Verlag, Linz 2015, Broschur, 96 Seiten
------------------------------------------------------------------------------------------------