Dressing ‚like a woman‘
»Paranoid reading« nennt Eve Kosofsky Sedgwick die Tendenz von (Literatur-)Theorie, in jedweder populärkultureller Äußerung erstmal eine unterliegende negative Ideologie zu vermuten, die aufzudecken es gilt. In vielen Disziplinen, so Sedgwick, sei dieses paranoide Vorgehen mittlerweile automatisiert, und verdränge andere mögliche Lesarten von Texten, Bildern und Praktiken, die möglicherweise Platz für Überraschung lassen, und somit zur Entwicklung anderer, vielleicht sogar neuer politischer Ideen und Praxen führen können. Felix Riedels eloquentes »Fragment« zur Bildstrecke von Iggy Pop im Cocktailkleid fällt streckenweise auf reflexhaftes paranoid reading zurück. Vielleicht liegt es am Verhaftetsein des Autors in Kritischer Theorie und Psychoanalytischer Kulturtheorie, die zwar beides wunderbare Instrumentarien zur Kulturkritik sein können, aber auch ein gesteigertes Potential zu Automatismen in der Argumentation in sich tragen.
Ein Reflex besteht zum Beispiel in einer generellen Absage an eine potentielle (emanzipations-)politische Wirksamkeit von male-to-female drag: »Die Gönnerei jener Männer, die aus der einst zwanghaften Travestie einen gesellschaftlich honorierten Faschingsball machen, verspricht ihnen keine Freiheiten sondern schreibt ihren Status fest.« Riedel begegnet dieser Praxis mit dem Universalverdacht, dass sie trotz einer oberflächlichen Irritation feststehender Geschlechterzuschrei-bungen eigentlich nur ein weiteres Instrument der Unterdrückung sei: im besten Fall gedankenlos paternalistisch motiviert, im schlimmen Fall wissend bösartig. Dies passiert wahrscheinlich in Abgrenzung an eine in den 1990er Jahren populäre, in ihrem Enthusiasmus selbst etwas verkürzten Lesart von Judith Butlers Gender Trouble, die besagt, dass drag an sich (und immer) die bestehende heterosexuelle Matrix quasi wie von selbst subvertieren würde. Angesichts dieser beiden Pole drängt sich in einer nicht-paranoiden Betrachtung von Iggy Pops drag die Frage auf, ob die Performance in diesem speziellen Fall nicht noch was anderes signifizieren könnte als entweder die totale Befreiung von heteronormativen Normalisierungszwängen, oder andererseits einen zutiefst verächtlichen Faschingsumzug.
Iggy Pops Intervention könnte auch einen Rückgriff auf ein nicht mehr ganz taufrisches Konzept von Geschlecht und Geschlechtlichkeit darstellen, das in seiner relativen Schlichtheit den derzeit bestehenden gap zwischen relativ fortgeschrittenen (man könnte auch sagen: »abgehobenen«) dekonstruktivistischen Sexualitäts-/Gendertheorien und einem dumpfen hegemonialen Mainstream-Empfinden, welches immer noch fest im Glauben an eine letztendlich doch biologische Erklärung (und damit Legitimation) eines als »natürlich« empfundenen polaren Zwei-Geschlechtermodells verhaftetet ist, überbrücken möchte. Text und Bild operieren hier in der Logik des guten alten sex/gender Modells und seiner interaktionistischen theoretischen Unterfütterung, dem doing gender-Ansatz. In der Bildserie stehen Cocktailkleid und Handtasche – beides hyperfeminin codierte Kleidungsstücke bzw. Accessoires – für »Frau«. Das ist einerseits probelmatisch und schreibt, wie auch Riedel feststellt, heteronormative (Bekleidungs-)Vorschreibungen weiter ein. Aus der Perspektive von doing gender hingegen lenkt diese Gleichsetzung von sexuiertem Kleidungsstück und sexuierter[1] Identität das Augenmerk der Betrachter_in auf die Konstruiertheit von Geschlecht. Die Bildstrecke und die begleitende Bildunterschrift kommuniziert, dass Pop durch das Anlegen eines Kleides selbst zur »Frau« wird (Pop: »to be a woman«). Den Akt des Gewandens stellt die Serie somit als wirkungsmächtige Interaktion dar, die »Geschlecht«, wie wir es verstehen, überhaupt erst herstellt.
2012 gilt das sex/gender Modell in vielen feministisch_queeren Theorieansätzen als unzeitgemäß. Mit seiner analytischen Trennung von »Geschlecht« in zwei Komponenten – einerseits das biologische »sex«, d.h. der Geschlechtskörper mit seiner Anatomie, seinen Hormonen, Gonaden und Genen, andererseits das gender als das »soziale« (der Satz an unterschiedlichen Rollen, Eigenschaften, Fähigkeiten, Erwartungen, Begehren, die »Männern« und »Frauen« zugeschrieben werden) Geschlecht – würde es den vergeschlechtlichten Körper und die ihm angeblich eingeschriebenen Begehrlichkeiten kampflos dem Bereich des Vordiskursiven überlassen, so der gegenwärtige Befund. In den 1980ern jedoch schlug das sex/gender Modell ein wie eine Bombe – und entfaltete eine (breiten-)gesellschaftliche Wirkung weit über die Grenzen abgeschiedener inner-feministischer akademischer und aktivistischer Kontexte hinaus. Das Modell erlaubte zum ersten Mal, über »Geschlecht« (zumindest in seiner Inkarnation als soziales »gender«) als etwas sozial Konstruiertes zu sprechen. Im Gegensatz zur bis dato vorherrschenden Konzeption von vergeschlechtlichen Kategorien wie »Mann« und »Frau« als natürlichen und somit unverrückbaren (natur)wissenschaftlichen Tatsachen war es nun möglich, eine Veränderung dieser Konzepte einzufordern. Was sozial konstruiert ist, kann schließlich auch durch menschliche Intervention – d.h. durch soziale, kulturelle und ökonomische Politiken, Praxen – verändert werden.
Wenn Iggy Pop 2012 in die Trickkiste einer nicht mehr ganz zeitgemäßen feministischen Theorie greift, dann könnte das einen Versuch darstellen, zu aktivieren, was Gabriele Jutz als das »utopische Potential des Unzeitgemäßen« bezeichnet. In Anlehnung an Walter Benjamin schlägt Jutz vor, dass die künstlerische Verwendung von ausrangierten und eigentlich nicht mehr nützlichen, weil zeitlich und technologisch überholten Techniken (wie z.B. Super 8 Film) politisches, progressives Potential in sich tragen können, »da die Relikte einer Gesellschaft im Zustand des Verfalls noch einmal an ihr originäres Glücksversprechen erinnern« würden (Jutz 2010, 71). Nicht eingelöste Versprechen, die überholte Technologien zum Zeitpunkt ihrer Durchsetzung auf dem Markt impliziert hatten – wie z.B. eine Demokratisierung des Filmschaffens durch die Verfügbarkeit von leistbarem, einfach zu bedienendem Amateurequipment – können bei bewusstem ‚unzeitgemäßen‘ Gebrauch der Techniken als Utopien erinnert und aktiviert werden. Was in Jutz‘ Beobachtungen für den Einsatz von überholten filmischen Techniken gilt, kann auch in den Einsatz überholter feministischer Theorien in Pops Performance gelesen werden. Die Bildserie versucht das unzeitgemäße utopische Potential des feministischen sex/gender-Modells gegenüber einer Gegenwart zu aktivieren, in der frauenpolitische Anliegen oft als altbacken Brot gelten, in der feministische Emanzipationsanliegen als bereits voll und ganz durchgesetzt begriffen werden, und in der sich eine zunehmende Rückgriffnahme auf eine angebliche »Natürlichkeit« von Konzepten wie »Frau« und »Mann« – auch und gerade in den in der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit höchst wirkungsmächtigen Naturwissenschaften – abzeichnet. Pops zugegebenermaßen etwas populistischer Retro-Anti-Essentialismus schadet hier meines Erachtens eher weniger. Auch, wenn er die wirklich interessanten Fragen, die sich zeitgemäße feministische Intervention immer noch stellen sollte – was meine/bewirke ich eigentlich, wenn ich die Subjekte feministischer Politik als »Frau« oder »die Frauen« subsumiere? – außen vor bleiben.
Literatur
Judith Butler, Gender Trouble. London, New York: Routledge 1990.
Gabriele Jutz, Das utopische Potential des Unzeitgemäßen. In: Dies., cinéma brut. Eine alternative Genealogie der Filmavantgarde. Wien/New York: Springer 2010.
Eve Kosofsky Sedgwick: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity. Durham, NC: Duke University Press 2003.
Candace West, Don H. Zimmerman, Doing Gender. In: Gender & Society, 1987 (1), 125-151.
[1] »Sexuieren« bedeutet, einen Gegenstand oder ein Konzept mit vergeschlechtlichter Bedeutung aufzuladen, ihm sozusagen ein Geschlecht zu »verpassen«. Ein sexuierter Gegenstand »hat« allerdings nicht bloß ein Geschlecht, sondern ist so stark mit der Vorstellung von Geschlecht verbunden, dass er als Symbol für dieses Geschlecht stehen kann. Ein Beispiel wäre der Stöckelschuh, der gegenwärtig nach wie vor stark mit der Vorstellung von »Weiblichkeit« verbunden ist.