Moderne Hexenjagden

Im subsaharischen Afrika flammen immer wieder Hexenjagden auf, einzelne Hexereianklagen sind alltäglich. Felix Riedel über eine Herausforderung für Wissenschaft und Gesellschaft.

»Hexenjagden – gibt es das immer noch?« Das ist üblicherweise die erste Reaktion auf Berichte über moderne Hexenjagden. Wenn es ins Detail geht, Lynchmorde und Ordale zur Sprache stehen, heißt es stets: »Das ist ja wie bei uns im Mittelalter.«
Diese »Wir«-Konstruktion ist auffällig: »Wir« sind ähnlich, aber zeitlich angenehm weit entfernt. Dabei gibt es in den Industriegesellschaften sehr ähnliche Projektionsmuster und kollektive Gewalt. Die europäischen Demokratien beherbergen den Antisemitismus, der sich nie ganz entmagisiert hat. Juden wird seit der Christianisierung Geldmagie und Ritualmord unterstellt. Geringfügig modernisiert werden diese Phantasien im verbreiteten Vorwurf, Juden würden die Weltwirtschaft oder zumindest die Banken beherrschen und sich rituell am Blut arabischer Kin­­­­­­der delektieren. Diese von zahllosen Medienfälschungen mitgenährten Ressentiments werden zwar als bösartig, aber nie als archaisch oder abergläubisch verhandelt. Morde an Flüchtlingen, Einwanderern und Obdachlosen gelten entweder als »neonazistisch« oder als zeitgemäße Bekämpfung der »illegalen Einwanderung«, in keinem Fall aber als mittelalterlich, obwohl die entsprechende Burgmentalität und das Pogrom durchaus Institutionen des Mittelalters waren.
Der Glaube an Magie ist in Europa ebenfalls ungebrochen oder sogar gesteigert dadurch, dass elektronische Geräte ihre miniaturisierte Technologie immer weiter spezialisieren und verstecken, während viktorianische Apparate mit sichtbaren Zahnrädern und Dampfleitungen auch dem Nichtexperten einigermaßen Auskunft über Effektreihen lieferten. Neben Kernspintomographen und I-Pads florieren »biodynamischer« Ackerbau, Mondphasenhaarschnitte, Homöopathie, Reiki und Akupunktur. Von ihren Anhängern werden diese magischen Praktiken mit den Euphemismen »Informationsphysik« oder »Quantenmedizin« auf den Status einer futuristischen, reiferen Technologie fantasiert, oft unter Beihilfe von gefälschten Studien. Magie wird »bei uns« im Allgemeinen akzeptiert und als Zeichen einer toleranteren Aufklärung sogar positiv konnotiert, an Hexerei zu glauben gilt aber als Zeichen des Rückstands.
Erst, wenn sich magische Vorstellungen und »pathische Projektionen« – also reflexionsloses Projizieren von eigenen, verdrängten Wünschen und Ängsten auf Opfer – zu einem einzigen, zur Hexenjagd verdichten, nimmt das bürgerliche Subjekt das als Anachronismus wahr. Getrennt greifen diese Phänomene das modernistische Selbstbild nicht an. Das hat verschiedene und nicht hinreichend geklärte Ursachen. Neben einem notorisch national beengtem Erfahrungshorizont ist die Verzerrung durch mediale Produktionen und Mythologien Ursache dafür, dass Hexenjagden als Phänomen des Mittelalters und nicht des 16. Jahrhunderts gelten, dass man mit ihnen einen mit Mistgabeln und Fackeln bewaffneten Mob assoziiert und nicht die Prozesse der weltlichen Gerichte, vor denen etwa 50-100.000 Menschen aller Geschlechter und Berufe vor allem in Mittel- und Nordeuropa als Hexen hingerichtet wurden. Die spanische Inquisition, die in den Medien das sado-masochistische Spektakel einer infamen Hexenjagd versinnbildlicht, richtete sich primär gegen Juden, Hexenprozesse führte sie kaum.
Die populären Mythologisierungen werden seit etwa 50 Jahren von engagierten HistorikerInnen nach und nach aufgelöst, bislang aber haften sie noch fest im öffentlichen und medialisierten Bewusstsein. In historische Museen und Denkmäler zu Hexenjagden werden Millionen investiert, während es trotz einer regen journalistischen Aktivität kein öffentliches Bewusstsein von aktuellen Hexenjagden gibt.
Dabei sind die Dimensionen längst übertroffen. Allein in Madagaskar wurden im 19. Jahrhundert mehr als 100.000 Menschen durch Giftordale ermordet. Giftordale waren in ganz Afrika weit verbreitet. Wer vom Gebräu starb, nahm das böse Prinzip, das in ihm wirkte, mit in den Tod. Wer überlebte, war rein. In der Kolonialzeit wurden diese Trankordale verboten. In ihren Transformationsformen sind sie aber weit verbreitet. In Nordghana ist es üblich, als Hexen verdächtigten Menschen einen Trank einzuflößen, von dem viele befürchten, er sei vergiftet. Manche gestehen dann lieber freiwillig, andere unter schwerster Folter. Eine der 150 Hexenjagdflüchtlinge, die ich interviewte, sagte, man habe ihr eine Nadel in den Finger gedrückt, um ein Geständnis zu erzwingen. Eine andere wurde mit geschmolzenem Plastik einer Taschenlampe gefoltert, einer zerschmetterte man mit einem Stein den Fuß, viele weitere wurden mit landesüblichen Peitschen aus Keilriemen oder Knüppeln und Macheten zugerichtet. Einem Mädchen in Nigeria wurde sogar ein Nagel in den Kopf getrieben.  Die gestandenen spirituellen Verbrechen beinhalten im afrikanischen Kontext meist Kannibalismus an Astralleibern. Durch die Beschädigung des unsichtbaren Leibes wird der sichtbare krank oder stirbt. Ein Traum liefert in diesem Fall Hinweise auf die vermeintliche Hexe. Von Lynchmord bedroht, exilieren Verdächtigte und schuldig Gesprochene zu Erd-Schreinen, an denen ihre Hexereikraft verpuffen soll. Heute leben etwa 1000 zumeist ältere Frauen in mindestens sieben Ghettos. Über diese sind mittlerweile vier Dokumentarfilme, zwei Bücher, wenige wissenschaftliche Arbeiten und über tausend Zeitungsartikel veröffentlicht worden. An der Situation hat das wenig geändert, die wenigen ghanaischen Hilfsorganisationen sind schlecht ausgestattet: Das komplexe Problem passt nicht in den simplizistischen Entwicklungshilfemarkt.

Das Problem ist kein spezifisch ghanaisches. In Indien, Indonesien, Brasilien, Peru, Saudi-Arabien, im ganzen subsaharischen Afrika flammen immer wieder Hexenjagden auf, einzelne Hexereianklagen sind alltäglich. Die Muster sind dabei ganz unterschiedlich, mal sind Täter oder Opfer Männer, mal Frauen, mal Kinder, die angeführten Gründe reichen von Schlangenbissen, Kindstoden, Unfruchtbarkeit bis hin zu Arbeitslosigkeit, Verkehrsunfälle, Internetbetrug. Seit über 80 Jahren forschen Ethnologen vor Ort zu Hexereivorstellungen. Sie konnten sich nicht einmal auf eine Feldforschungsmethodologie einigen, die Hexenjagden berücksichtigt. Der stille Konsens beinhaltet den Konformismus mit einem Kollektiv, von dem man initiiert werden will – man hält also tendenziell still und propagiert die »objektive« Beschreibung des Vorfalls, wo man nicht selbst von der eigenen Hilflosigkeit traumatisiert wird und dann erst recht darüber schweigt.
Es gab auch Versuche, die eingangs beschriebene Wir-Konstruktion dadurch aufzuheben, dass man Hexereivorstellungen als normal, rational, unbedenklich, wenn nicht sogar als subversive Kritik beschrieben hat. Und darin ist zunächst einmal viel Wahrheit enthalten: Die allermeisten Menschen, die an Hexerei glauben, klagen niemanden an, viele entwickeln friedliche, mitunter ruinöse Gegenmaßnahmen. Nicht wenige sind in ihrem Hexenglauben reflektierter als europäische ChristInnen und in der Lage, Projektionen begrifflich auszudifferenzieren. Für manche ist Hexerei ein kleines, alltägliches Übel, das man nicht fürchtet, für andere sind Hexen weniger bedrohlich als andere spirituelle Gefahren.
Dennoch: In gigantischen Regionen führen Hexereivorstellungen zu humanitären Katastrophen in Permanenz. In Nigeria, der DRC, Südafrika, Kenia, Tansania und anderen hat sich eine Traditionalität von Hexenjagden entwickelt. Wie sich der Aufklärungsmangel in diesen afrikanischen Gesellschaften darstellt, wird häufig nur in der Abstraktion verhandelt: Krisen, Globalisierung, Modernisierung, historische »Störungen« angeblicher kultureller Harmonie durch Sklavenhandel und Kolonisierung waren schuld am Desaster, aber Individuen, Subjekten und Akteuren Verantwortung zu übertragen oder ihnen gar moralische oder intellektuelle Rückstände zu bescheinigen, gilt als unaussprechlich in einer dezidiert postkolonialen Wissenschaft. Als Opfer der abstrakten Prozesse zeichnete man daher jene, die an gestiegenen Hexereiängsten litten.
Die ANC-Jugend, die Comrades, hatte vor und während dem Sturz der Apartheid ihren Machtanspruch dadurch unterstrichen, dass sie Hexenjagden organisierte. Sie stülpten Angeklagten einen Autoreifen über, damit sie sich nicht wehren konnten, gossen Benzin über die Opfer und zündeten sie an. Über 5000 Menschen kamen in der Hochphase zu Tode.
Das kann nicht mehr als Resultat einer gesellschaftlichen Krise verhandelt werden – es ist die Krise selbst. Identitäten sind brüchig, es herrschte eine Phase extremer Unterdrückung, der Unsicherheit und des Wandels. Diese Gleichzeitigkeit erklärt aber gar nichts.
In afrikanischen Gesellschaften haben und treffen Menschen, die an Hexerei glauben, eine Wahl. Eine meiner Interviewpartnerinnen beklagte ganz richtig: »I have lost 4 out of 7 children. I never accused anyone or suspected witchcraft. My accuser has lost 1 and she accused me. Why?« Das ist die beste und schwierigste Frage, der sich die anti-individualistische Ethnologie leider zu selten stellt.
 
Ich möchte mit diesen kurzen Verweisen auf populäre Irrtümer über Hexenjagden dazu ermutigen, die vielfältigen Quellen über Hexenjagden kritisch zu lesen. Die ältere anthropologische Literatur von Frazer, Malinowski, Levy-Bruhl, Mauss ist auch heute gut lesbar, einige moderne Ethnologen wie Adam Ashforth oder Laura Bohannan schrieben sogar exzellente wissenschaftliche Romane.  
Es bleibt indes, eine Warnung gegen Voreiligkeit auszusprechen: Keine Literatur ersetzt eine Reise, den längeren Kontakt mit Individuen und die Konfrontation mit vermeintlich oder tatsächlich unbekannten kulturellen Kategorien. Das Thema Hexenjagden selbst ist eines der komplexesten und reichsten der Geisteswissenschaften. Ganze Bibliotheken wurden dazu geschrieben. Man kann hier nichts beenden oder abschließen. Jedes ernsthafte Interesse führt unweigerlich in einen Strudel aus philosophischen Problemen, an denen sich allerdings sehr viel und sehr Bedeutendes über Philosophie und Gesellschaft selbst lernen lässt.

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