»Niemand will mit den Taliban kämpfen«

Die Lage der pakistanischen und afghanischen Flüchtlinge im Wiener Servitenkloster zeigt einen Wettlauf mit der Zeit.

Wenn man zu Mittag in dem niedrigen Gemeinschaftsraum der aus der Votivkirche in das leerstehende Servitenkloster übersiedelten Flüchtlinge die Treppe hinunter kommt, hängen sie meist noch auf ihren Lagern herum und ihren Gedanken nach. Ein Flüchtling kann seine Familie nicht mehr erreichen, seitdem die Taliban den Handy-Mast sprengten. »Warum sind die Taliban nur so erfolgreich?«, frage ich. »Die Amerikaner bringen die Gefangenen ins Gefängnis. Die Taliban haben kein Gefängnis«, sagt er, »wenn sie einen fangen, schneiden sie ihm gleich den Kopf ab. Also will niemand mit den Taliban kämpfen.« Im Juni muss er wegen starker Magenschmerzen operiert werden. »2014 werden die Russen nach Afghanistan zurückkommen«, sagt der 20-jährige afghanische Maruf. »Unser schönes Land ist komplett am Ende. In meinem Dorf leben nur noch Taliban.« Dann schreibt er mir den Internetlink auf, woher er seine Informationen hat, dass der pakistanische Geheimdienst ISI acht- bis zehnjährige Paschtun-Kinder zu Selbstmord-Bombern ausbilden würde.
Ali, ein pakistanischer Flüchtling, ist entsetzt, er sieht etwas bleich in seinem ansonsten braunen Gesicht aus. »Bei der Polizei wiesen sie mich an, das Datum zu aktualisieren, als ich das letzte Mal meine Familie sah. Dabei...« Er schluckt. »Dabei ist das angegebene Datum der Tag, an dem sie alle ermordet wurden?«, fahre ich fort. Er nickt. Ali ist der typische Vertreter eines Flüchtlings, der äußerst schlimme Erfahrungen mit bewaffneten Mördern gemacht hat und versucht, diese ganz alleine und nur mit sich selbst auszumachen. Mit dem Ergebnis, dass dieses Knäuel an Tod und Mord und Albträumen in seinem Magen und Kopf revoltiert und sich immer schneller im Kreise dreht. Manchmal haut er sich mit der Faust fest auf die Stirn, immer wieder – als ob er diesen Kreislauf von Gedanken und Bilder mit Schlägen unterbrechen will. »Es bringt nichts, wenn man versucht, diese Erfahrungen zu unterdrücken«, sage ich. »irgendwann wirst du innerlich explodieren. Das ist zwar die männliche Variante, aber nicht gesund.« Ali lächelt, meine Meinung kennt er eh. Ali war in der Wiener Votivkirche einer dieser Flüchtlinge, die sich immer im Hintergrund halten. Seiner Art entsprach es nicht, als Flüchtlingssprecher aufzutreten. »Ich blieb immer in meiner Ecke und verließ die Kirche fast nie«, sagt er beinahe stolz. »Ich redete nie, mit niemand.« Und macht eine Bewegung, als ob er sich mit einem Schlüssel den Mund zusperrt. Seit Monaten verspricht er mir, dass er ein Interview geben wird. Er will mir »seine Geschichte erzählen«. Aber er kann einfach nicht. Mehrmals setzt er zum Sprechen an und gibt wieder auf. Er ist noch nicht soweit. Da säuft er lieber Alkohol oder nimmt Schlaftabletten, weil er ansonsten wieder die ganze Nacht wach liegt. Bei seinem Asyl-Interview konnte er nicht aufhören zu weinen, bei meinem letzten Interview-Versuch in einem Gasthaus beginnt er ständig seinen Pulloverärmel rauf und herunter zu rollen. »Mein Leben ist nicht schön. Manchmal mag ich mein Leben nicht«, sagt er dabei. Da gehen wir lieber eine Runde Donaukanal spazieren und schauen uns die Sprayer-Kunstwerke mit ihren unheimlichen Skeletten und Totenköpfen an oder beobachten im Würstel-Prater, wie sich ein Mann aus seinem Rollstuhl heraus in die Höhe schießen läßt mit diesem hohen Karussel, das sich in Wolkenkratzerhöhe dreht. Da wird er wieder bleich, der kleine Ali.

Rückblick: Eingefrorenes Beamten-Geschwader

Ich merkte es an der Bewegung der Flüchtlinge. Waren sie gerade noch freudig und aufgekratzt, die Schar pakistanischer und afghanischer Jungs im Hof des Servitenklosters, so erstarrten sie plötzlich mitten in der Bewegung und ein Großer versuchte, die anderen zurückzudrängen, sie in einem hilflosen Versuch zu beschützen, mit seinem Körper zu verdecken. Erstaunt drehte ich mich um. Und dann sah ich sie: Eine Schar von zehn bis zwanzig komplett steifer Menschen, die wie Salzsäulen erstarrt, mit völlig unbeweglichen, ausdruckslosen Mienen, hinter dem Gitterzaun standen und die Flüchtlinge musterten. Es sah aus wie eine Theaterperformance und wirkte sogar auf mich als österreichische Staatsbürgerin und Journalistin unheimlich und gruselig. Durch diese eingefrorene Haltung, die Gesichter wie Masken, ein Geschwader an dunklen Anzügen. Nur die Augen eines Mannes verfolgten mich, das einzige Lebendige in dieser Szene. Das Bild wirkte wie in einem Western, wenn sich zwei Gruppen, die sich gegenseitig fürchten, aber voneinander unausweichlich angezogen werden, gegenüberstehen. Eine starke Spannung hing in der Luft. Endlich verstand ich, was in einem Kinderbuch mit den »grauen Herren« gemeint war. Obwohl hier auch eine Frau in einem braunen Hosenanzug mit Weste dabei war, mit einem Ordner unter dem Arm. Aber auch sie war in dieser seltsam lauernden Haltung erstarrt. »Wer ist das?«, fragte ich Klaus Schwertner, den coolen Caritas- Sprecher, der am Tor stand und in die Luft schaute. »Das sind die Beamten des Innenministeriums, die gekommen sind, um die Flüchtlinge in Einzelgesprächen zu befragen. Das war so ausgemacht.« Anscheinend sind die Einzel-Befragungen dann aber relativ gut abgelaufen.

Falsche Annahmen im Asylbescheid

»Das Gemeine ist, dass in der erneuten Asyl-Ablehnung wieder die gleiche falsche Begründung drin steht, gegen die der Rechtsbeistand schon Einspruch erhoben hat«, sagt die junge, pakistanische Frau entrüstet, die seit Monaten die Flüchtlinge mit Deutschunterricht und Dolmetschen unterstützt und sonst eigentlich immer gute Laune hat. Sie schwenkt ihren Kaffeebecher, den sie aus Zeitmangel auf der Straße mit sich herum trägt und schüttet prompt etwas aus. »In der Ablehnung stand, dass er sich nach der Ermordung seiner Eltern, seiner kleinen Schwester und der Brüder, wieder im Elternhaus aufgehalten hätte und dass das der Beweis dafür sei, dass er persönlich nicht bedroht sei.« »Und das stimmt nicht?«, frage ich. »Nein, er konnte natürlich nie zu seinem Elternhause zurückkehren, das war zu gefährlich«, antwortet sie. Ali denkt, die Herkunft dieses entscheidenden Fehlers liegt bei der indischen Dolmetscherin in der »Erstaufnahmestelle« Traiskirchen.
»Meine Familie hat mich immer verwöhnt, ich weiß auch nicht warum«, sagt Ali später, als wir im Lokal »Adria« am Donaukanal sitzen und Pepsi Cola trinken, »ich durfte immer alles haben und meine Brüder nicht.« Er lacht. »Erst als meine Schwester kam, war sie der Liebling der Familie. Da hörte ich aus Protest zu sprechen auf, mit zwölf Jahren.« Mit fünfzehn haute er von zu Hause ab, über die Gründe will er aber auch nicht reden. Bei einigen, der in ihrem Rahmen eleganten, modischen und vornehmen Flüchtlinge, wird man das Gefühl nicht los, dass sie eigentlich verwöhnte Söhne aus reichem Hause sind. Die sich manchmal über die Caritas beschweren, als ob diese noch Herr Vater oder Frau Mutter wären, bei denen man als Beschwerdestelle erfolgreich landen kann. »Geld spielt keine Rolle«, sagte denn auch einmal ein anderer Flüchtling in einem Profil-Interview, »mein Vater würde mir sofort die Mittel für ein Internet-Café schicken.« Dieser Flüchtling verdrängt erfolgreich, dass zwei junge Menschen im Rahmen seiner Flucht ihr Leben ließen. Seine »Verarbeitungs«-Strategie besteht im Ausleben seiner »Trauma-Anziehung«, um Erfolge bei anderen Opfern zu landen. »Er benutzt andere Menschen dazu, seine schlechten Energien loszuwerden«, ist Ali überzeugt. Diesen Weg, sein Trauma zu bearbeiten, will er nicht gehen. Deswegen schweigt er weiter eisern und lässt nur hie und da ein paar Andeutungen fallen. Sein edles Verhalten wird sich aber zeitlich nicht ganz ausgehen: Denn Ali unterschrieb die Wünsche der pakistanischen Botschaft und der österreichischen Behörden bezüglich eines »Rückkehrabkommens« nicht, sondern will lieber alleine handschriftlich seine Einsprüche formulieren und mit der jungen Pakistani in Ruhe übersetzen. Das dauert aber seine Zeit. Zeit, die er nicht hat. Niemand berücksichtigt, dass Ali keine Erfahrung hat, die Schatten und Gespenster seiner toten Familie zu be- oder gar zu »ver-arbeiten«, sondern durch die Mühen der Flucht (Griechenland!) bisher erfolgreich verdrängt hat. Doch jetzt haben ihn die Toten in der Ruhe des Servitenklosters endlich eingeholt. Auf der Warteliste der Flüchtlingshilfsorganisation »Hemayat«, die professionelle Hilfe anbietet, stehen aber im Moment schon 200 Flüchtlinge, die alle lernen wollen, in kleinen Portionen über Todes-Erfahrungen zu reden – ein Jahr wird Ali auf professionelle Unterstützung warten müssen. Sollte er sich zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb der Schubhaft befinden.
Trotzdem gibt es Hoffnung: Das Bild der fröhlichen Reihe der Flüchtlinge, die in der sonnigen Küche im Servitenkloster gemeinsam den Teig für Fladen aufrollen, die flachen Fladen in einer niedrigen Pfanne braten und scharfen Kartoffel- und Gemüsebrei einlegen, zeigt ein paar glückliche junge Männer, die in Solidarität und Gemeinschaft stabile Momente erleben und Atem schöpfen können, sich Kraft holen voneinander.

Dieser Text wurde von Ali autorisiert (Rückübersetzung ins Englische) und entstand über einen längeren Zeitraum in mehreren Gesprächen.

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