Kein Platz mehr für Dichtung (Teil 3)
„Die meisten Persönlichkeiten waren genötigt Rebellen zu sein“, schreibt Oscar Wilde in seinem Essay über Die Seele des Menschen im Sozialismus, und fährt fort: „Ihre halbe Kraft hat die Reibung mit der Außenwelt verbraucht.“ Es gehört zum Verdienst Houellebecqs, genau diese Reibungen, die er selbst beständig erfährt, literarisch zu übersetzen. So sehr er sich jeglichem Engagement in der Kunst versagt, verspürt dieser Romanautor wider Willen, der mit größtem Bedauern feststellt, dass es „schlichtweg keinen Platz mehr für die Dichtung gibt,“1 nach eigener Aussage eine „Verpflichtung“: „Ich war aufgefordert, die Phänomene zu retten (..) und die Rolle als Rekorder anzunehmen.“2
In Karte und Gebiet kommt auch der Künstler Jed zu Berühmtheit durch seine Fotografien von „Objekten aus dem Eisenwarenhandel“, dann von Michelin-Karten und schließlich durch die Gemälde der „Serie einfacher Berufe“, welche oftmals im Verschwinden begriffen sind. Zentral ist im Werk Houellebecqs unter anderem der Wehmut über den Verlust des letzten Restes von Gebrauchswert, der auch ihm als „das innere Motiv der Kritik der politischen Ökonomie und deren Telos“3 gilt. So sind die Tränen der Figur Houellebecq, die vergossen werden, weil die bevorzugten Schuhe, der Lieblings-Parka und ein Laptop mit eingebautem Drucker nach wenigen Jahren vom Markt genommen wurden, gerade aufgrund der scheinbaren Banalität des Anlasses durchaus ernstzunehmen. Szenen wie jene dürften wohl Anlass gewesen sein, Houellebecq für einen Reaktionär zu halten, wobei er selbst weiß und betont, dass gesellschaftliche Verfallsprozesse nicht umkehrbar sein, und demnach keineswegs für eine solche Regression streitet. Seine Skepsis angesichts des Fortschrittswahns hingegen ist bestenfalls als konservativ zu bezeichnen, wobei ihm durchaus ein gewisses dialektisches Moment innewohnt. Denn er verfällt nie der Nostalgie, so sehr er auch manchmal in ihr zu schwelgen scheint. Ihm ist es schlichtweg ein unhintergehbarer Fakt, dass wir nach dem „Übergang in eine hedonistischere Phase des Konsumkapitalismus“4 leben. Das heißt jedoch nicht, dass er sich damit einfach arrangiert.
Die tragenden Mittelschichts-Protagonisten der Romane – jene männlichen Antihelden - sind meist relative Profiteure der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die allesamt darum wissen, dass es ein dezenter Vorteil ist, zumindest nicht körperlich arbeiten zu müssen, die ihre Lohnarbeit jedoch trotzdem als pure Anmaßung empfinden. Sie sind weder Bourgeois noch Citoyen, sondern vielmehr gesättigte Befehlsempfänger, oder Künstler, denen die Gründe ihres Erfolges selbst nicht ganz klar sind. „Ich bin zu nichts gut (…), völlig abhängig von der Gesellschaft, die mich umgibt, und bin trotzdem so gut wie unnütz für sie“5, ist ein Satz, der von allen Hauptcharakteren der Romane stammen könnte. Ihre Heimat finden sie höchstens in der Sprache, wobei dies auch zugleich ihre Beschränkung darstellt – vor allem die mangelnden Englischkenntnisse verhindern geradezu das Kosmopolitentum. Ferner sind diese Charaktere wahnsinnig konventionell, wenn man sie von außen betrachtet, wofür sinnbildlich der immer wieder bezogene Guide de Routard steht, der französische Lonely Planet, also jener Reiseführer für rucksackbepackte Individualtouristen, die gerade durch diese Lektüre verraten, wie es um ihre Individualität steht. Die mangelnde Häme gegen solche Konventionen ist besonders eindrucksvoll geschildert in einer kurzen Passage aus den Elementarteilchen, in der es heißt, „dass die Welt der Kleinbürger, die Welt der Angestellten und mittleren Beamten toleranter, liebenswürdiger und aufgeschlossener ist als die Welt der Aussteiger, der am Rande der Gesellschaft lebenden jungen Leute.“6 Konventionen lassen sich erlernen, Geld ansparen, um die notwendige Ausstattung – Anzug und Auto - zu erwerben, „dagegen würde es mir nichts nützen, mich als Aussteiger zu verkleiden: Dafür bin ich weder jung, noch schön, noch cool genug. (…) Kurz gesagt, ich bin nicht natürlich genug, oder mit anderen Worten nicht Tier genug.“7 Diese schon an Kreatürlichkeit grenzende Vorstellung von Natürlichkeit, „die rohe Gewalt einer natürlichen Schwäche“, wird aber nicht einfach verdammt, wie es in der linken Privilegienkritik Usus ist, sondern der Neid ist ein ressentimentloser. Houellebecq ergreift Solidarität für die Alten und die Hässlichkeit, ohne jemals seine Liebe für das Junge und Schöne zu leugnen. Er, der „eher als Tier klagen (wird) denn als Mensch“8, weiß um die Notwendigkeit der Befriedigung der kreatürlichen Bedürfnisse als Grundlage des Glücks. Wenn etwas verdrängt wird, ist es höchstens die Kindheit zugunsten der Adoleszenz.
Indem die Protagonisten nun als satte eingeführt werden, kann ganz orthodox die Sexualität statt des Hungers als Haupttrieb der Menschen betrachtet werden.9 Verlierer oder zumindest Abgehängte sind die Protagonisten nämlich im sexuellen Wettstreit, „im Konkurrenzkampf um die Scheide junger Frauen.“10 Die Drastigkeit der Sprache hat oftmals verhindert, dass über die Sätze ernsthaft nachgedacht wurde. Zu sehr versteifte sich die Kritik auf die Ahndung von Signalwörtern. „Niemand ist weniger Macho und niemand respektiert Frauen mehr als Michel Houellebecq“, urteilte hingegen sein bei Charlie-Hebdo ermordeter Freund Bernard Maris in seinem letzten Werk.11 Und tatsächlich; wie kann man ernsthaft jemandem Frauenfeindlichkeit vorwerfen, für den Gott noch am ehesten mit der weiblichen Vulva vergleichbar ist, worin unter anderem die Erkenntnis aufgehoben ist, dass im Wert zahlreiche Momente Gottes eben nicht aufgegangen sind.
Neben Schilderungen der Prostitution dürfte der Grund für die Vorwürfe vonseiten der Frauenbewegten vermutlich unter anderem darin zu suchen sein, dass er seinen Protagonisten sehr prägnante Urteile über die verwirrten Fixierungen des Feminismus in den Mund gelegt hat, exemplarisch: „Diese Zicken haben die ganze Zeit nur über das Geschirrspülen und die Arbeitsaufteilung geredet; sie waren buchstäblich besessen vom Spülen.“12 Dabei ist Parole „Die Welt von morgen ist weiblich!“ durchaus feministisch zu nennen. Die Neomenschen schließlich wären als radikalfeministische Konsequenz zu lesen; und somit als Vollstreckung des Wertes durch die Abschaffung der sexuellen Unterschiede.
Selbst der Rassismus entbehrt jeglicher ökonomischen Grundlage. Mit Rassismus sind hier natürlich nicht jene Ausführungen gemeint, über die „dümmste aller Religionen“, die „nur im Stumpfsinn einer Wüste entstehen (konnte), inmitten dreckiger Beduinen, die nichts anderes zu tun hatten - entschuldigen Sie bitte den Ausdruck -, als ihre Kamele zu ficken,“13 sondern der ganz vulgäre Rest-Rassismus, der jedoch seine Funktion im Text hat, und sich auf die Erkenntnis Brunos verkürzen lässt, dass er „einen ganz kleinen Schwanz hatte.“ Somit hat er „angefangen, die Neger zu hassen,“ da diese sicher „einen irrsinnig langen Schwanz“ hätten.14 Er begann nun ein „rassistisches Pamphlet zu verfassen, wobei (er) fast ununterbrochen eine Erektion hatte.“15 Deutlicher kann man die pathologischen Momente des Rassismus kaum entlarven. Dass ferner gerade Bruno – also der Braune - der Rassist ist, entlarvt seine eigenen Projektionen auch noch auf der Namensebene und beweist ferner, dass der Autor Rassismus bewusst platziert, anstatt ihm zu verfallen.16
Die oftmals ironische Bedeutung der Namensgebung, die er in Karte und Gebiet selbst thematisiert, indem er einen der Hauptprotagonisten, der im letzten Kaff durch die „Rue Martin-Heidegger“ spaziert, „über die fast absolute Entscheidungsfreiheit“ sinnieren lässt, „die Bürgermeistern bei der Namensgebung der Straßen in ihrer Gemeinde eingeräumt wurde,“17 sollte man keineswegs unterschätzen. Kein Name im Werk ist zufällig. Selbst der Nachname Brunos Clément, der Gnädige, verweist auf seinen Bruder: Michel Djerzinski - den Architekten der neuen Spezies. Er, der durchaus den Sympathieträger des Romans verkörpert, ist nach dem ebenfalls polnischen Felix Dserschinski (franz. Félix Dzerjinski) benannt, dem berüchtigten ersten Leiter der Tscheka und Vollstrecker der ersten Terrorwelle. Ob seiner Unbarmherzigkeit und kühlen Berechnung verdiente er sich den Beinamen „Eiserner Felix.“ Anlässlich seines Todes verkündete Clara Zetkin: „Das erhabene historische Leben der Partei muß den Tod überwinden.“18 Dieser kurze Satz sagt einiges aus über den Stand der Russischen „Revolution“, denn so sehr die Idee von der konkreten Abschaffung des Todes und des „neuen Menschen“ hauptsächlich in der Sowjetunion gepflegt wurde und maßgeblich verbunden ist mit Namen wie Fyodorov, Svjatogor, Jarovslavskij, Bogdanov und Murav'ev, bewies die UdSSR sehr praktisch, dass abstrakte, utopische Vorstellungen in der Verbindung mit bürgerlicher Kälte immer drohen, in Terror überzugehen, wofür schon Robespierre, Saint-Just und ähnliche Adepten bürgerlicher Disziplin ein Vorbild lieferten. Die spätrassistische und sexbesessene, pathologische Hitze eines Brunos, der konsequenterweise in der Psychiatrie landet, verblasst sehr rasch angesichts der rationalen, aber menschenvernichtenden Arbeiten seines Bruders.
In den beiden Brüdern Michel und Bruno zeigt sich ferner die Trennung von Sexualität und Reproduktion: „Bruno ist Sexualität ohne Fortpflanzung, Michel ist Fortpflanzung ohne Sexualität.“19 Es ist darüber hinaus die Spaltung von Glück und Genuss bzw. eines spannungsfreien Zustandes und sexueller Ekstase. Jenseits von Stolz und Scham versucht er, die Spuren des Glücks zu ergründen. Mehrere Figuren gehen jedoch schließlich zum Sterben ins Meer und verraten mit dieser Tat viel über den Todestrieb, so es ihn denn wirklich geben sollte.
Seine Charaktere unterliegen einer glaubwürdigen und adäquaten Verstümmelung auf der Höhe der Zeit. Wer sich über ihre Gedanken(gänge) mokiert und verkennt, dass wir alle solche haben, wenn auch nicht genau diese, wehrt mit größter Wahrscheinlichkeit nur die eigenen Triebansprüche ab. Ganz im Sinne Oscar Wildes rationalisiert Houellebecq die Ranküne gegen seine Bücher nicht als Bereicherung: „Es wird bestimmt der Moment kommen, in dem man die Reaktion auf meine Bücher als Symptom betrachtet.“20 Ihm und uns ist dringend zu wünschen, dass dies bald geschieht. Hoffnungsvoll stimmt in dieser Hinsicht, dass in ihm nach eigener Aussage „in Bezug auf den Roman noch ein großes Feuer brennt.“21
1Volksfeinde. S. 254
2Ebd. S. 81f
3Pohrt. Theorie des Gebrachswerts. S. 39
4Volksfeinde. S. 65
5Elementarteilchen. S. 222
6Ebd. S. 62
7Ebd. S. 62f
8Volksfeinde. S. 148
9Somit korrigiert er vermutlich unwissentlich Ernst Blochs Freudkritik in „Das Prinzip Hoffnung“.
10Plattform. S. 38
11Bernard Maris: Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus. S. 110
12Elementarteilchen. S. 157
13Plattform. S. 334
14Elementarteilchen. S. 210
15Ebd. S. 214
16Gewisse Gruppierungen scheinen ihm nie vergeben zu können, dass er um die Differenz von Rassismus, Antisemitismus und „Islamophobie“ weiß.
17Karte und Gebiet. S. 271
19Thomas Steinfeld: Man muss auf allen Fronten angreifen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1999
20Volksfeinde. S. 286
21Volksfeinde. S. 291