Realitätsverweigerung
»Ich weiß nicht, ob etwas demütigender für die Menschen sein kann als die Gewissheit, worin wir sind, dass nichts so Unsinniges und Lächerliches erträumt werden kann, das nicht zu irgendeiner Zeit oder auf irgendeinem Teile des Erdenrunds von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen für wahr, ernsthaft und ehrwürdig wäre angesehen worden.«
Christoph Martin Wieland, deutscher Aufklärer (1733 – 1813)
Dass es mit der Realität beziehungsweise deren Wahrnehmung so eine Sache ist, wurde an dieser Stelle bereits anhand des Phänomens der »Filterbubble« erläutert, mit der man sich im Internet mehr oder weniger unbewusst umgibt; was nicht alleine an den umstrittenen Algorithmen liegt, dank derer Firmen wie Facebook und Google ihre Nutzer mit vorgefilterten Inhalten versorgen, sondern auch an der Jellyware vor dem Gerät, die ebenfalls äußerst effektiv darin ist, sich Informationen so zusammenzusuchen und zurechtzuinterpretieren, dass sie zu ihrem Weltbild passen (siehe Versorgerin #108).
Nun hat die Filterfunktion des menschlichen Gehirns durchaus ihre evolutionäre Berechtigung, will man beispielsweise nicht ständig vor Bäume rennen, die man vor lauter Wald nicht sieht; völlig frei von den geschilderten Denkmechanismen ist niemand. Ein hübsches Beispiel dafür ist Känguru »Keuschi«, das alle Jahre wieder durch die Timelines der Sozialen Medien hüpft: Belustigte bis empörte Twitterer verbreiten einen Artikel von »dietagespresse.com«, in dem von einer Kampagne der Erzdiözese Wien berichtet wird, die mit dem Beuteltier als Maskottchen für sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe werbe. Dass der Text bereits von 2013 stammt, fällt den Usern dabei ebensowenig auf, wie das nicht ganz unwesentliche Detail, dass auf der Seite der »Tagespresse« auch Meldungen wie etwa die zu lesen sind, der zurückgetretene österreichische Bundeskanzler Faymann strebe eine Karriere als Taxifahrer in Brüssel an. Kurzum: Die »Tagespresse« ist vielleicht nicht so bekannt (und leider auch lange nicht so lustig) wie ihr deutsches Äquivalent, der »Postillon«, aber dennoch nicht allzu schwer als Satire zu erkennen. Sofern man eben dem Reflex widersteht, mit einem triumphierenden »Da seht ihr mal wieder, wie bekloppt dieser Katholizismus ist« unbesehen den »Retweet«-Button zu klicken – und so unter Beweis zu stellen, dass auch eine aufgeklärte und liberale Geisteshaltung nicht vor dem Drang schützt, unbedingt recht haben zu wollen.
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass das Ausmaß der Realitätsverweigerung mit der politischen Einstellung korreliert, genauer gesagt, besonders stark dort ist, wo der Absolutheitsanspruch schon in der Ideologie angelegt ist. Donald Trump will vom menschengemachten Klimawandel ebenso wenig wissen wie zahlreiche Anhänger der AfD, der türkische Präsident Erdogan sieht sich von Verschwörern umzingelt, und Österreich hätte mit Norbert Hofer beinahe einen Mann zum Präsidenten gewählt, der sich in der Vergangenheit unter anderem mit parlamentarischen Anfragen zu sogenannten Chemtrails1 hervortat.
Wenn der Rest der Welt sich partout nicht so verhält, wie manche Meinungsinhaber es von ihr erwarten, spricht die Psychologie von »kognitiver Dissonanz«. Ein solcher Widerspruch lässt sich zwar auch konstruktiv auflösen, indem jemand sein Weltbild den Fakten anpasst (etwa wenn jemand die Behauptung »Die Ehe für alle gefährdet die traditionelle Familie« angesichts der Erkenntnis revidiert, dass sich durch heiratende Schwule und Lesben rein gar nix am eigenen Hetero-Eheleben ändert); je dicker aber das Brett vorm Kopf ist, umso häufiger geschieht das Gegenteil. Die Wikipedia-Liste typischer Scheinlösungen liest sich wie eine Aufzählung von Verhaltensmustern, die man aus der reaktionären Ecke kennt:
- »Die Erregung wird auf andere Ursachen zurückgeführt«; zum Beispiel werden also heiratende Schwule für die eigene zerrüttete Ehe oder Flüchtlinge dafür verantwortlich gemacht, dass man sein Leben nicht auf die Reihe kriegt, und für Salafisten und sonstige religiöse Eiferer ist die allgegenwärtige Gottlosigkeit (lies: Leute, die Spaß am Leben haben) an allen Missständen schuld. Die Essenz dieser Denkstruktur ist die Verschwörungstheorie, die wiederum in den seltensten Fällen ohne »die Juden« auskommt. Es ist wohl kein Zufall, dass der Antisemitismus zur ideologischen Grundausstattung von Faschismus wie Islamismus gleichermaßen gehört.
- »Der Widerspruch zwischen Verhalten und Einstellung wird heruntergespielt«; der Klassiker in dieser Rubrik lautet: »Ich bin kein Nazi, aber …« Oder auch, wie es ein besonders deutscher Denker einmal auf Facebook ausdrückte: »Nur weil ich nationaler Sozialist bin, bin ich noch lange kein Nazi!«
- Und last but not least, die Mediennutzung der Vernagelten auf den Punkt gebracht: »Nichtwahrnehmen, Leugnen oder Abwerten von Informationen« sowie »selektive Beschaffung und Interpretation von dissonanzreduzierenden Informationen.«
Bei dieser mentalen Gemengelage verwundert es nicht, dass die Medien zum Feindbild werden, deren Aufgabe ja zumindest dem Anspruch nach darin besteht, die Realität abzubilden2. Als Anfang Mai ein Mann in München mit dem Ruf »Allahu akbar« auf Passanten einstach, einen von ihnen tötete und mehrere verletzte, ließ sich der Volksmob in den Kommentarspalten auch von der kurz nach den ersten Meldungen nachgereichten Information nicht in seinem Toben stören, dass es sich bei dem Täter um einen mutmaßlich psychisch Kranken aus Hessen handele: Statt der offiziellen Mitteilung der Polizei, glaubte man lieber der frei erfundenen Behauptung eines Facebook-Nutzers, der Messerstecher habe »einen muslimischen Migrationshintergrund« (wo immer dieses Muslimistan liegen mag) und heiße in Wahrheit nicht Paul H., sondern »angeblich Rafik Y.«, und nahm das zum Anlass, einmal mehr gegen die »Lügenpresse« zu hetzen.
In ihrer Wahrnehmungsverzerrung fällt den Hassbürgern nicht einmal auf, dass die Mehrheit der Medien sich längst einen erbärmlichen Wettlauf darin liefert, sich bei ihnen anzubiedern - sofern sie nicht ohnehin offen mit ihnen sympathisieren. Wer etwa den »Focus« kennt, den überraschte die Ankündigung seines langjährigen Redakteurs Michael Klonovsky nur wenig, im Sommer einen neuen Job als publizistischer Berater der AfD-Frontfrau Frauke Petry anzutreten. (Ebensowenig überrascht die Nachricht, dass Petry nun vorgeworfen wird, für ihr neues Medienteam Gelder ihrer sächsischen Landtagsfraktion abgezweigt zu haben, was eine verbotene Verwendung von Fraktionsmitteln wäre.3)
Weniger Glück hatte Klonovskys Journalistenkollege Günther Lachmann, der für die »Welt« über die AfD berichtete, bis Anfang dieses Jahres bekannt wurde, dass er sich der Partei erfolglos als Berater, quasi im Nebenjob, angedient hatte. Das ging seinen Arbeitgebern beim Springer-Verlag dann doch zu weit, während die fehlende politische Distanz offensichtlich kein Problem dargestellt hatte. Lachmann wurde entlassen, im Twitterfeed der »Welt« wird man zwischen Sex, Crime & Fußball weiterhin im Stunden- bis Minutentakt mit Schlagzeilen versorgt, die auch direkt aus der AfD-Wahlkampfzentrale stammen könnten: Integration: Muslimische Migranten müssen sich endlich besser anpassen - Integration: Minderjährige Flüchtlinge kosten Städte Milliarden - Islamdebatte: Wer Ja zum Islam sagt, muss auch Ja zur Scharia
sagen - Meinungsforschung: AfD ist nicht die Ursache für Populismus - Sexualaufklärung: Wie Frau Doktor den Arabern das mit dem Sex erklärt - Tatort Schwimmbad: Die Angst vor den Flüchtlingen im Freibad - …
Nun ist die politische Ausrichtung des Springer-Verlags hinlänglich bekannt; weniger klar ersichtlich ist, was das öffentlich-rechtliche Fernsehen dazu treibt, Vertretern einer Partei mit einem fragwürdigen Verhältnis zur Pressefreiheit einen Stammplatz in seinen Talkshowsesseln einzuräumen. Falls es sich nicht um heimliche Sympathien handelt, muss es wohl jenes Verständnis von Ausgewogenheit sein, mit dem auch fundamentalistische Christen fordern, die Schöpfungsgeschichte als alternative Erklärung zur Evolutionstheorie in die Lehrpläne aufzunehmen.
Ausgewogen wäre allerdings auch der Vorschlag, den ich den Programmverantwortlichen vor einigen Monaten im Blog »Prinzessinnenreporter« unterbreitet habe: »Wer Pegidisten, AfDler oder sonstige ‚Lügenpresse‘-Schreier zu sich ins Fernsehstudio einlädt, muss in der Woche darauf zu deren Anhang auf die Straße. Also, zum Berichten, nicht zum Mitlaufen. (Protipp: Schutzkleidung nicht vergessen.)« Dass diese Idee erhört wird, ist allerdings ebensowenig zu erwarten, wie die Erkenntnis der Sender, dass Meinungsfreiheit nicht die Verpflichtung bedeutet, Woche für Woche geistige Brandstifter die Grenzen dessen neu definieren zu lassen, was als öffentlich sagbar gilt - oder auch nur die Einsicht, dass die faktenresistente Zielgruppe auch damit nicht zurückzugewinnen sein wird. Die wird nämlich frühestens dann zufrieden sein, wenn die deutsche Medienlandschaft derjenigen in der Türkei ähnelt.
[1] Eine besonders abstruse, und vermutlich genau deshalb eine der verbreitetsten Verschwörungstheorien, die sich um angeblich in den Kondensstreifen von Flugzeugen ausgebrachte Chemikalien rankt. Welchen finsteren Zwecken - Klimabeeinflussung, Gedankenkontrolle der Bevölkerung, oder oder oder … - das dienen soll, darüber sind sich nicht einmal die Anhänger der Theorie einig.
[2] Die (Selbst-)Erkenntnis, dass es so etwas wie eine hundertprozentig objektive Berichterstattung nicht gibt, gehört zum Grundkurs Journalismus: Das fängt bei der Themenauswahl an, setzt sich fort in der Bewertung, welche Fakten für ein Thema als relevant erachtet werden, und auch der sachlichste Text kommt nun einmal nicht ohne Sprache aus, die selbst immer schon Wertungen beinhaltet: Der krampfhafte Versuch, vermeintlich wertfrei über die Rassisten von Pegida & Co. zu berichten, hat die deutsche Sprache um Begriffe wie »Asylkritiker« und diverse andere Euphemismen bereichert. Im idealen, also seltensten Fall, bewahren Journalisten diese Lektion als Leitfaden zur Selbstreflexion im Hinterkopf; in der Realität sieht es - s.o. - häufigManders aus.
[3] Diese Information trägt nur insofern zum eigentlichen Thema bei, als dass sie zur Illustration des in der vorigen Fußnote Beschriebenen dient.
Neben anderen Devotionalien zu beziehen über www.prinzessinnenreporter.de (Foto: Sarah Hinney)