Sie wollten einen neuen »Boss«
»Dell’arte della guerra« ist die Geschichte eines Arbeitskampfes: In der Mailänder Metallindustrie soll 2008/09 eine weitere Fabrik zugesperrt werden. Die INNSE-Arbeiter_innen kämpfen fünfzehn Monate und acht Tage um ihren Erhalt. Zuerst mit Selbstverwaltung des Betriebes, dann mit Belagerung der Straßen vor dem Fabrikgelände, zuletzt mit der Besetzung von vier Kränen. Sie wollen die Fabrik erhalten, sprich: Sie wollen einen neuen »Boss«. Und sie setzen sich durch, aber als »Sieg« würden sie das nicht bezeichnen, erzählen Silvia Luzi und Luca Bellino – was haben sie schließlich gewonnen? »Entfremdete Arbeit in der Fabrik«. Die zentrale Aussage, die es zu verteidigen gelte, ist: Die Fabrik gehört nicht dem Boss; die muss er uns schon lassen, wenn er geht. Luzi und Bellino haben den Kampf bei INNSE porträtiert – das Resultat ist Arbeiterkino at its best. »Dell’arte della guerra« lief beim diesjährigen Crossing Europe Filmfestival.
Sind Arbeitskämpfe ein großes Thema in Italien?
Luca Bellino: Alles ist voll von Arbeitskämpfen, auch wenn sie sich in den Strategien jeweils unterscheiden. Die italienische Situation ist speziell: Italien war nach Deutschland die zweitgrößte Industrienation Europas. Jetzt ist das Ende der industriellen Ära evident, jeden Tag sperrt eine Fabrik zu. Die ganze Produktion wird ausgelagert.
Silvia Luzi: Wir dürfen also in Hinblick auf die Fabriken nicht nur von den einzelnen Bossen sprechen, die an ihrem Ende beteiligt sind, sondern auch von dem politischen Willen, der dahintersteckt: der Wille der Troika, der Europäischen Union. Da werden Machtfragen gestellt.
Wie kam es zu »Dell’arte della guerra«?
Silvia Luzi: Ich habe im August 2009 eine kleine Notiz in den Onlinenachrichten gelesen: In Mailand sind vier Arbeiter auf zwanzig Meter hohe Kräne geklettert. Und sie sagten, wir bringen uns um, wenn sich kein neuer Besitzer für die Fabrik findet. Diese Art von Arbeitskampf war neu. Und die Arbeiter_innen hatten beschlossen, alleine zu kämpfen, ohne Gewerkschaften, ohne politische Parteien.
Luca Bellino: Silvia hat mir das vorgelesen und zehn Stunden später waren wir auf dem Weg nach Mailand.
Wie hat es vor Ort ausgesehen, als Ihr angekommen seid?
Silvia Luzi: Wir sind zu dem Stützpunkt, dem sogenannten »Präsidium«, außerhalb der Fabrikstore gegangen. Es war wie ein Theater, wie eine große Bühne. Da war die Fabrik, umstellt von Polizei, Militär und der Einheit zur Terrorbekämpfung – alles wegen der Arbeiter. Und in der Mitte der Straße das »Präsidium«.
Luca Bellino: Die Straße war zu, Autos konnten nicht durch. Leute fuhren vorbei, sie waren am Weg zum Meer und sagten: Was passiert hier? Ein Protest? Ok, wir bleiben. August ist in Italien Urlaubsmonat.
Wieso ging der Protest ausgerechnet im August in so eine heiße Phase, die doch Unterstützung braucht?
Silvia Luzi: Die Arbeiter_innen sahen eine Deadline kommen. Sie hatten fünfzehn Monate protestiert, und niemand hat sie beachtet. Aber diese Monate hindurch hatten sie die Fabrik unter Kontrolle gehabt. Sie kannten die unterirdischen Zugänge und konnten so darauf schauen, dass die Maschinen intakt bleiben. Am 5. August kamen sie wieder in die Fabrik und sahen, dass der Besitzer andere Arbeiter geschickt hatte, um die Maschinen abzubauen. Sie wussten, sobald die Maschinen abgebaut sind, ist das das Ende der Geschichte dieser Fabrik. Sie gingen also rauf auf die Kräne und niemand wusste, wie lange sie da bleiben müssten.
Luca Bellino: Zusätzlich war es sehr heiß, 40 Grad, Gelsen, vier Quadratmeter pro Person. Die Polizei stellte den Strom ab, sodass sie nicht einmal ihre Handys aufladen konnten. Und wir reden hier nicht von jungen Leuten: Weder die vier oben, noch alle anderen unten waren jung.
Und Ihr zwei wurdet einfach so akzeptiert?
Silvia Luzi: Im Gegenteil. Erst nach einiger Zeit, als sie bemerkten, dass wir Tag und Nacht bei ihnen bleiben, sagten sie, ok, wir reden mit euch. Ohne Kamera, aber immerhin – so begannen wir, Beziehungen aufzubauen. Und nach einer Weile konnten wir filmen. Aber wen wir ja immer noch nicht kannten, waren die vier da oben – und du kannst dir vorstellen, das waren die stärksten Charaktere. Als die runterkamen, mussten wir nochmal von vorne anfangen. Drei Jahre lang sind wir nach Mailand gefahren, Rom-Mailand, Rom-Mailand ... wir haben darum gekämpft, dabei sein zu dürfen, denn die erste Reaktion war: Ihr seid keine Arbeiter_innen.
Luca Bellino: Aber wir konnten eine Menge Dinge austauschen. Wir haben ihnen Filme gezeigt, sie haben uns Bücher zu lesen gegeben, es war toll. Aber es war auch ein Kampf, ein Krieg (lacht).
Silvia Luzi: Bis sie zum Schluss sagten: Ok, machen wir also diesen bescheuerten Film.
Luca Bellino: Letztendlich gab es sehr lustige Momente beim Dreh: Sie haben unser Set betrachtet und gesagt, das ist ja wie eine Fabrik, ihr habt Hierarchien, alle haben ihre Rollen, ihr arbeitet mit den Händen, die Arbeit ist schwer, und ihr steht um fünf in der Früh auf.
Silvia Luzi: Schau an, ihr arbeitet ja auch!
Das Wort »Krieg« kommt ziemlich häufig vor – die vier im Film verwenden es mehrfach sehr selbstbewusst für ihren Arbeitskampf. Im Publikumsgespräch habt Ihr gesagt, daran hättet ihr Euch erst gewöhnen müssen.
Luca Bellino: Eine sehr zentrale Sache, die uns abgeht – überall in der Welt und gerade auch in Europa –, ist die Konzeption von Konflikten. Wir haben nicht nur die Worte dafür verloren, sondern auch die Vorstellung davon. »Krieg« steht symbolisch dafür, dass du deine Ideen verteidigst.
Silvia Luzi: Wir haben aber viel über dieses Wort diskutiert. Schließlich gibt es, während wir vom symbolischen Krieg sprechen, anderswo auf der Welt reale Kriege. Es war also auch eine ethische Frage. »Die Kunst des Krieges« ist letztendlich ein ästhetisches Konzept. Und wir haben versucht, das auch filmisch differenziert darzustellen, die heißen und die kalten Phasen.
Wie kann es sein, dass bei den Protesten vor der Fabrik keine Gewerkschafts- oder Parteiflaggen auftauchen?
Silvia Luzi: Die Arbeiter_innen haben sie verscheucht. Alle haben ihr Glück versucht, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen. Es war sehr wichtig, dort aufzutauchen. Als wir zu Filmen begonnen haben, wollte ständig wer in die Kamera winken, der Gewerkschaftssekretär, der Parteisekretär: Ciao, Mamma! Wir haben das alles rausgeschnitten.
Woher nehmen die Arbeiter_innen das Selbstbewusstsein, alle Unterstützung abzulehnen?
Silvia Luzi: Weil sie dreißig Jahre Kampf hinter sich haben, das hat sie gestärkt. Sie blicken nicht auf die acht Tage zurück oder auf die fünfzehn Monate, sondern auf eine ganze Tradition. Ihre gute Ausbildung haben sie weder in der Schule noch an der Uni genossen, sondern in
der sozialen Auseinandersetzung. Dort haben sie gelernt, für Ihre Rechte zu kämpfen.
Fünfzehn Monate Arbeitskampf, das kann kein Zuckerschlecken sein.
Silvia Luzi: Durchaus nicht. Sie mussten all die Zeit zusammenhalten, ohne Einkommen, ohne Arbeitslosenversicherung.
Luca Bellino: Die haben sie abgelehnt, denn es war klar: Wenn sie akzeptieren, dass sie arbeitslos sind, ist es vorbei mit ihrer Fabrik.
Silvia Luzi: Nicht zu vergessen ihre Familien. Die Frauen, die Freundinnen, die Partnerinnen kommen kaum vor in den Bildern des Films, aber sie waren ebenso da. Sie haben die Familien erhalten, sich um die Kinder gekümmert, geschaut, woher sie das Geld für die Miete nehmen. Fünfzehn Monate überbrückt man nicht einfach mal so.
Luca Bellino: Eine Besonderheit in diesem Arbeitskampf war, dass nicht nur die Arbeiter_innen gekämpft haben, sondern mit ihnen die Angestellten.
Silvia Luzi: Und so kam es dazu, dass in den Verhandlungen mit dem neuen Boss Forderungen gestellt wurden: Ok, wir kommen runter vom Kran – du öffnest die Fabrik wieder und gleichst die Gehälter an. So wurden aber auch die Gehälter der höchsten Angestellten runtergesetzt, und die haben das akzeptiert.
Bei der italienischen Geschichte denkt man an die starke Verbindung zwischen Industriearbeiter_innen und intellektuellen Arbeiter_innen.
Luca Bellino: Das stimmt für die Siebzigerjahre. Heute sitzt Toni Negri in Frankreich und schreibt Bestseller.
Wie sieht es mit den Student_innen aus?
Luca Bellino: Es gibt nicht mehr dieses organische Konzept vom gemeinsamen Kampf zwischen Student_innen, Intellektuellen und Arbeiter_innen. Diese Zeit wurde in den 1980er Jahren vom Terrorismus brutal unterbrochen, und was danach kam, war die Zeit des Fernsehens.
Silvia Luzi: Du musst wissen, dass die heutigen Student_innen Kinder der Ära Berlusconi sind.
Was kann ich mir darunter vorstellen?
Silvia Luzi: Die Kultur, mit der wir aufgewachsen sind, nennen wir »Milano da bere«, Milano zum Trinken. Campari time! Yes, we can, alles kein Problem, gib mir deine Businesscard, mach dir keine Sorgen. Keine Orte der Auseinandersetzung mehr, keine Orte, um sich zu treffen, sich zusammenzutun. Und gleichzeitig endlos viel Scheiß im Fernsehen anschauen – und ich rede nicht von Spielfilmen und Serien, ich rede vor allem von Nachrichten. Zur selben Zeit hat sich, wenig überraschend, das gesamte Bildungssystem verändert. Die Kultur der Bewegungen an Schulen und Universitäten ist ausgestorben. Es gab nur einen einzigen Moment, wo es danach aussah, dass wir uns das zurückholen: Der G8 in Genua. Das war der Moment, in dem alle zusammenkamen um sich gemeinsam zu organisieren. Und sie haben uns mundtot gemacht: Einen haben sie tatsächlich ermordet, und der Rest hatte eine Riesenangst. Wir waren darauf nicht vorbereitet.
Luca Bellino: In diesen letzten zwanzig Jahren hat begonnen, was wir den historischen Revisionismus nennen. Die ganze Geschichte wird revidiert. Aber zur selben Zeit entstehen paradoxer Weise Freiräume für etwas Neues.
Ihr seid also nicht pessimistisch?
Silvia: Nein. Wir meckern viel. (lacht) Aber pessimistisch sind wir nicht.