Anderweltliches (otherworldly)

Aus dem »Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken« von Philip Hautmann.

Heute Nacht wieder einmal ein Weltuntergangstraum, wie so oft. Das oberste Geschoß, in dem ich mich aufhalte, gefährlich weit oben, quadratisch der Raum, an jeder Seite vollständig aus Glas. Ich bin im Besitz der Information, dass jetzt der Weltuntergang kommt, ein Atompilz am Horizont, dann noch einer; wieder eine Stadt oder ein Land das draufgeht, sage ich mir, bald wird die Reihe an uns sein, die Atompilze kommen schon näher. Zum einen ist mir klar, dass ich jetzt offenbar endgültig verrückt geworden bin, zum anderen registriere ich, dass ich in einem Traum bin. Ich stehe vor dem Problem, dringend das Küchenkastl reparieren zu müssen, ein handwerklicher Depp wie ich es bin, und das noch dazu in einem besonders unzugänglichen Bereich und dann eben auch noch das mit dem Weltuntergang und den Atompilzen, die immer näher kommen. Ohne meine Eltern kann ich das nicht reparieren, ohne meinen Vater oder irgendwen sonst kann ich handwerklich einfach überhaupt nichts, versuche ich mich verzweifelt zu rechtfertigen vor irgendwem, dann schaue ich wieder aus dem Fenster, da ist ein riesiges ballonartiges Ding in der Luft, weiß, mit in einem Oval angeordneten schwarzen Punkten rund um den Mittelpunkt, eine sozusagen gesichtsartig-gesichtslose Bedrohung, ein Ausdruck für die Atompilze, wie immer in meinen Träumen, sie verändern sich zu einer Art von Ballonen oder treten von vornherein als solche auf; da auf der anderen Seite ist schon der nächste, diesmal orange mit schwarzen Punkten. Drei Dinge habe ich jetzt also zu erledigen: das Küchenkastl zu reparieren, mit dem Doktor zu sprechen wegen meiner jetzt endgültig ausgebrochenen Geisteskrankheit und mich vor dem Weltuntergang in Sicherheit zu bringen, beziehungsweise mich mit dem Weltuntergang abzufinden, denn in Sicherheit bringen kann man sich vor einen Ereignis dieser Tragweite ja wohl kaum. Draußen schießt wieder ein Atompilz in die Höhe, ciao Afghanistan denke ich mir, obwohl natürlich auch bereits ein näher liegendes Land wie Moldawien oder die Türkei dran sein könnte. Die Ballons da draußen machen den Eindruck, den sie immer in solchen meinen Träumen machen: einen an und für sich harmlosen; zwar hochgradig unnatürlich, dass sie da in der Luft hängen und auf- und absteigen, dann aber sind sie wieder zu dumpf um Schaden anzurichten. Ich mache mir Sorgen wegen meiner Geisteskrankheit und außerdem registriere ich, dass ich wach bin, also mich bewusst in einem Traum befinde, es scheint mir so zu sein, dass das eben den Umstand unterstreicht, dass ich jetzt endgültig verrückt geworden bin. Vorher habe ich immer nur geglaubt, verrückt zu werden, aufgrund der extremen Zustände und Schmerzen, hervorgerufen durch Depressionen. Im Zustand einer schweren Depression stehen wir unter dem Eindruck eines sensorischen Overloads oder auch Overkills, dann kennen wir uns nicht mehr aus und empfinden uns als verrückt, die Psychiater sind aber unfähig, einem das so zu sagen und so zu erklären, mich haben sie noch selten auf einer rein menschlichen Ebene angesprochen, was an und für sich schon einmal den meisten Druck von einem wegnehmen würde, nein, dazu haben sie entweder nicht das Wissen oder das Format oder aber beides fehlt. Überhaupt wundere ich mich immer wieder, wie sehr mir so viele Leute im Allgemeinen an Wissen wie auch an Format unterlegen sind, und mit diesen Ausführungen bewege ich mich leider aus der Schilderung meines Traumzustandes heraus und werde nüchtern, rational, langweilig. Tatsächlich habe ich den Rest meines Traumes vergessen, oder er hat aufgehört, allerdings erinnere ich mich noch, wie ich dann vom obersten Stockwerk aus Glas dann unten in einem Schacht war, auf dem Weg zu einem Kanal, es ist nämlich immer so, dass wir nach dem Weltuntergang dann in einem langen Kanal schwimmen, als Überlebende, der Kanal ist dann irgendwie die Welt nach dem Weltuntergang; aber der Traum löst sich auf, die Steinplatten, die Gehirnzellen schließen sich, nur mehr ein endloses Grab, eine grünlich-graue Ebene des Schweigens, dafür steht immerhin die Welt noch, was mich in den günstigen Zustand versetzt, weiterhin aber auch immer wieder zu wiederholen »Death to false metal!«, doch mir scheint, gegen die Gschertheit der Leute kann man einfach nicht an, und möge die Welt untergehen, sie leben und sterben einfach in einem geschmacklichen Traum ---

--- da ich jetzt leider wieder normal geworden bin, aus der Traum, renne ich der Möglichkeit, etwas Anderweltliches (otherworldly) zu erzählen hinterher, kurze Pause der fruchtlosen Überlegung, was ich als nächstes für einen Halbsatz schreiben soll, aber ich renne ja immer noch, ich renne an einem Wirtshaus vorbei, drinnen sitze ich in einem bequemen Sessel und habe einen schnieken Anzug an, das Glas in der Hand und schaue mir nach, wie ich davonrenne. Dann blicke ich zu meinem anderen Mir vor dem Bildschirm und sage: Gut, dann will ich die Geschichte des Laputaners Richard May erzählen, der sich selbst aber nennt: May-Tzu! Ja, gute Idee. Richard May May-Tzu kenne ich über das soziale Netzwerk Facebook ein wenig, er ist Mitglied der Prometheus Society, die einen IQ von mindestens 160 als Eintrittskriterium verlangt, sowie außerdem der Mega Society und der Omega Society, die beide diesbezüglich einen IQ von gar über 175 verlangen; die Mega Society nennt sich so, weil man statistisch gesehen nur bei einem Menschen unter einer Million damit rechnen kann, dass er einen solchen Intelligenzquotienten aufweist. Und ein solcher Mensch ist also May-Tzu. Weiters bin ich auch noch mit anderen Leuten aus diesen Zusammenhängen befreundet, ein anderer von der Omega Society zum Beispiel outet sich auf seiner Seite als amerikanischer Waffennarr und opponiert gegen jegliche Verschärfung der praktisch nicht vorhandenen Waffengesetze in seinem Heimatland, ein andrer postet ausschließlich über Essen, hat aber immerhin auch zwei selbstgeschriebene Notizen über Shakespeare und David Foster Wallace‘ »Infinite Jest« in seinem Kasten, und dann ist da auch noch Angell O. de la Sierra, den ich im Zusammenhang mit der Amygdala und den doppelconferencierenden Monstren bereits erwähnt habe, und der mir mit Bezug auf sein BPS-Modell der Funktionsweise des menschlichen Gehirns neulich mitgeteilt hat: »My big stumbling block I find now is the mathematical justification for the reciprocal information transfer via dark baryonic receptor connecting the intelligent designer entity and our brain premotor attractor phase space. That‘s a tough one.« Das sind die Kerle von der Omega Society, die in diesem sozialen Netzwerk im Übrigen ihre eigene Gruppe hat, der ich mich natürlich nicht anschließen kann, da mir dazu leider die nötige Intelligenz fehlt. Dafür bin ich aber immerhin ein wenig strange, auf eine intelligente Weise, wie die Leute es alle bemerken, und das finde ich auch gut so, abgesehen natürlich von den sozialen, den finanziellen und den sexuellen – also praktisch fast allen – Konsequenzen, die das mit sich bringt. May-Tzu informiert einen über Facebook aber immerhin, dass es in der Gruppe der Omega Society im Zeitraum von vielen Monaten nur ein einziges Posting gegeben habe, und noch dazu, wie man es auf dem höchsten Level der menschlichen Intelligenz erwarten könne, eines mit einem völlig trivialem Inhalt. May-Tzu gefällt mir, leider hat er vor einiger Zeit das Posten fast vollständig eingestellt, hin und wieder kommt es vor, dass er ».« oder »( ).( )« zum Besten gibt. Zuvor waren seine Beiträge sehr lapidare Epigramme, die sich meistens auf die Unmöglichkeit einer absoluten Verstandesleis-tung bezogen haben, jetzt bestehen sie überhaupt nur mehr aus einem Punkt oder einer Klammer oder wenn es hoch kommt, aus Punkten und Klammern. Im gesamten World Wide Web findet man ein einziges Video, das May-Tzu zeigt, es nennt sich »May-Tzu‘s Theory of Nothing«, ist ohne Ton, dauert eine Minute und eine Sekunde und zeigt Richard May May-Tzu und seine Katze. Ansonsten passiert nichts. In der Anmerkung dazu steht, insofern die meisten Theorien über Alles nichts vorhersagen und nichts erklären, sei May-Tzus Theorie über Nichts, die nichts erklärt und nichts vorhersagt unter der Berücksichtigung von Ockhams Rasiermesser diesen vorzuziehen. Das ist also Richard May May-Tzu, der einen Intelligenzquotienten von über 175 aufweist. Sonst ist von Richard May May-Tzu wenig bis nichts bekannt. Auf die Frage, wo er sich derzeit aufhalte, antwortet er, wenn man nach May-Tzu suche, solle man einfach in einen leeren Raum gehen, dort wäre er. Ich habe mich mit Richard May May-Tzu und anderen Leuten, die sich auf dem höchsten Niveau der menschlichen Intelligenz bewegen, angefreundet, um zu sehen, was die so von sich geben, und was für Menschen man auf dem ultimativen Intelligenzlevel erwarten kann. Und Richard May May-Tzu ist ein solcher Mensch. In einem Posting auf Facebook bekennt er übrigens, er halte sich nicht für sonderlich intelligent. Wie aber auch immer, Richard May May-Tzu halte ich für einen sehr interessanten Mann, einen Mann an der Grenze des menschlichen Verstandesvermögens, daher ist er so interessant, vor allem für das Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken. Ich denke, bevor man endgültig über die Klippe fällt, kommt man als letztes noch an May-Tzu vorbei. Oder aber nein, da ist meine Straße in einem weißen Raum, ich jage sie entlang, und zufällig habe ich oben ja gesagt, dass ich renne und renne, ich renne die Skala des menschlichen Verstandesvermögens entlang, und da links, da steht statuarisch der rätselhafte May-Tzu, er beugt sich leicht und lächelnd nach vor, wie ich daherkomme, jetzt renne ich an ihm vorbei und denke mir: Jetzt kommt´s! Jetzt müsste es kommen! Das absolute Durchbrechen, und meine Vision wird nie mehr wieder dieselbe sein, sondern sich in einem anderen, höheren Reich abspielen, wo es keinen falschen Metal mehr gibt. Eine kurze Weile stehe ich an der Klippe, dann kommt ein weißes Ausfließen mir entgegen, ich stehe vor einer Art horizontalen Fontäne, die weißes Lichtmaterial ausströmen lässt und wieder abfließen, ein Muster, das sich ständig erneuert und regeneriert, mit hoher Intensität, um das noch spezifischer zu machen. Ich frage mich, was das jetzt sein soll. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens komme ich darauf, es ist die Frage nach Otze, die ich im »uninterpretierbaren Traum« angerissen und erwähnt habe! Da stehe ich also: Nah an der Frage Was oder wer ist Otze? Ich stehe und warte, sehe der Fontäne zu, wie sie mir weißes Lichtmaterial entgegenströmt, wer oder was ist Otze…? Otze aber ist die Vision, immer tiefer in den Kosmos schauen zu können um Neues, bisher Unbekanntes zu sichten, die sich mehr und mehr vertieft. Und damit ist diese Geschichte hier endgültig zu Ende, incipit die nächste.

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