Lust an der Erfindung der Gegenwart
Franz Xaver: Servus Wolfgang. Wir beide haben uns relativ spät kennen gelernt. Ich kannte die Stadtwerkstatt (STWST) seit 1980, habe aber die handelnden Personen erst 1986 bei einer Ausstellung in Wien kennengelernt. Du warst zu dieser Zeit nicht mehr richtig in Linz, sondern hast dich mit Minus Delta t (MDT) rumgetrieben. Du warst aber eines der STWST-Gründungsmitglieder und auch ein Künstler, der sich relativ rasch von den bis dahin gültigen Methoden der Kunst verabschiedet und neue Möglichkeiten gesucht hat. Was mich zu Beginn des Interviews interessieren würde, ist die allgemeine Situation in Linz Ende der 70er Jahre und wie Du vor der Gründung der STWST zur Kunst gefunden hast.
Wolfgang Georgsdorf: Nestflucht. Mich hat‘s halt nach den turbulenten Gründungsjahren hinaus gezogen. Aber die Verbundenheit mit der STWST ist nie abgerissen. Mit Minus Delta t habe ich mich auch schon »rumgetrieben«, als es die Stadtwerkstatt noch nicht gab. Karel Dudesek und ich sind uns Ende 1977 begegnet, kurz nachdem ich mein Kunststudium in Linz begonnen hatte. Das war eine lebhafte und schöpferische Freundschaft. Er hatte mir bald auch Mike Hentz und Chrislo Haas vorgestellt. 1978 hatte ich an einer der ersten heftigeren Performances von MDT im Ratinger Hof in Düsseldorf mitgewirkt. 1979 war ich längere Zeit in den USA und Mexiko, und im Herbst 1979 hat die Gründung der Stadtwerkstadt begonnen, d.h. es gab zunächst die formelle Vereinsgründung durch Wolf Sator und einige Linzer Kunststudenten, die mit ihm Stadtentwicklungs- und Wohnprojekte in Holland besucht hatten, eine Reise, bei der ich gar nicht dabei war, weil ich zu der Zeit eben in Amerika war. Aber schon davor hatten wir kleiner Haufen renitenter und umtriebiger Kunststudenten in der Provinzialität und bürgerlichen Linzhaftigkeit der damaligen Kulturpolitik Interventionen verschiedener Art u.a. auch gegen die Zerstörung des alten Linzer Hauptplatzes und der Urfahrer Altstadt organisiert. Und danach, ab Herbst 1979, verlief die operative Gründung der STWST als Prozess so ca. über ein Jahr, in dem wir bis 1980 zwei mal umgezogen sind und in der Friedhofstraße 6, der heutigen Friedrichstraße, das Gebäude gefunden hatten, in dem wir dann jahrelang blieben. Was das »Finden zur Kunst« betrifft, war das ein unausweichlicher Verlauf. Die Schule fand mich verhaltensauffällig, und eigene, verspielte wie ernste Aktionen brachten mir ständig Probleme ein. Ich hatte zwar ab der 5. Klasse die erste Lesung meiner Texte im Linzer Kellertheater, und mir an Wochenenden und in den Ferien wirksames Taschengeld durch recht spezielle Werbemalerei verdient, aber das damalige Gymnasium als Anstalt war kaum erträglich. Die Eltern, die Lehrer, alle hatten es schwer mit mir, aber vor allem auch ich mit ihnen. Ich empfand das ganze Setting als, ich würde heute sagen, Lebens-Enge und schöpferische Behinderung. So hatte ich auch die Stadt empfunden. Es gab aber Oasen. Das OP-Kino, der Schlossberg, die Gassen in Urfahr, Abbruchhäuser, Keller, Bunker, die Franz-Josefs-Warte, die Donauländen, Badcafé und Bergermami....oft bin ich ausgebuchst. Im Sommer 1977 bin ich mit meiner Pariser Freundin Maria Amaral, die ich in München bei Mal- und Musikaktionen kennengelernt hatte, ich würde sagen, liebestrunken und tatendurstig durch halb Europa gezogen, in München, Paris, Amsterdam, Südfrankreich, bis in den Herbst hinein, mit einschlägigen aktionistischen Abenteuern, in deren Verlauf der gesellschaftlich als »Kunst« definierte Lebensbereich mir halt als etwas Unbedingtes erschienen war. Ohne Ausweg. Und damit war es der Ausweg. Als ich von der spanischen Grenze zurück nach Linz stoppte, kurz bevor ich 18 wurde, war es just der Tag, an dem Hans Martin Schleyer von der RAF ermordet worden war und ich mit meinem weißen Hemd und geschorenem Kopf am Walserberg mehrere Staukilometer an den wartenden Autos vorbei zu Fuß über diese Grenze gegangen bin, nachdem mein Rucksack dort – wie auch alle Autos – noch zerlegt worden war. Umso befreiender, dass ich drei Wochen danach in die Kunsthochschule aufgenommen wurde und in dem rettenden Status eines Studenten eine geschützte Spielwiese betreten konnte. Anselm Glück und ich waren die einzigen, die bei Laurids Ortner Aufnahmeprüfung machten, völlig unentschieden, für welches Studienfach. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich gar nicht mehr oder noch nicht zwischen den künstlerischen Disziplinen unterschieden. Jedes Mittel war recht, der Alltag ein Theater, der öffentliche und der private Raum waren Bühnen und sämtliche mich umgebenden Gegenstände und Materialien waren Zutaten einer Modifikation kraft souveräner Willkür. Dann zeigten sich aber auch in der Kunsthochschule schnell die Anstaltsschranken. Und da war die Gründung der Stadtwerkstatt und die Selbsterfindung einer kreativen Familie wie ein ekstatischer Befreiungsschlag. Das war das Gefühl, wir schaffen uns da eine eigene, kleine, aber weite Welt, als Basislager und Gärfass.
Franz Xaver: Ok, Wow! Eine eindrucksvolle Schilderung jener Zeit, in der ja überall noch Optimismus herrschte. Diesen Optimismus konnte auch die persönliche, finanziell katastrophale Situation einzelner KollegInnen oder die Ölkrise mit ihrem autofreien Tag nicht erschüttern. Ein Gedanke an eine nahe, künftige, sorglose Welt war stärker. Ein Gedanke, der wahrscheinlich über die Hippies, Musik, die Mondlandung, den technologischen Perspektiven entstand und bis nach Linz getragen wurden. Ein Linz, in dem es kein kulturelles Angebot gab, keine Studentenlokale, nur das Badcafé, das wieder ein anderes Extrem darstellte. Ich kann mich noch erinnern, als der erste Italiener eine Pizzeria eröffnete – das war wie Weihnachten – ein anderes kulturelles Angebot – unglaublich! Und es waren auch die Innovationen jener Zeit, die mich positiv in eine neue Welt blicken ließen. 1978 war ich z.B. in der Tvind-Schule (Juetland), wo das erste 3-Flügelwindrad entwickelt wurde.
Egal, nicht allzu sehr mit Vergangenem aufhalten. Es geht mir um den Kontext der Kunst – wie sich dieser damals entwickelte. Die Medien spielten ja dabei auch schon eine große Rolle. Auch diese Aktion von MDT – der Transport eines Steines nach Indien – war ja ein Medienereignis, eine Form der Medienkunst. Ich glaube, das war irgendwann Anfang der 80er Jahre?
Ich steckte damals im Kontext der bildenden, skulpturalen Kunst. Anfang der 80er Jahre änderten sich für mich die Arbeitsmateria-lien in Glas, Licht, Beton und Stahl. Um einen Prozess in einem Werk kontinuierlich miteinzubinden, war es irgendwann notwendig, Elektrizität in Skulpturen zu verwenden. Das löste zum Glück all diesen Latzhosen-Hippiedreck ab. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich Anfang der 80er Jahre um mein ganzes erspartes Geld (ca. 9.000,– ATS) einen Laser kaufte. 1-2 Jahre später kam dann der erste Computer – ein Texas Instruments TI99i. Durch den Computer kamen dann noch mehr Bewegung und mehr Prozesse in meinen Kunstkontext. Abläufe, Handlungen, Aktionen und deren mediale Dokumentation spielten ja auch bei MDT eine wesentliche Rolle. Nicht unwesentlich war auch die neue Musikrevolution, die auch vom Ratinger Hof ausgegangen ist.
Es war ja immer eine ganzheitliche Sichtweise, die diese neue Kunst prägte. Die ersten Dokumentatio-nen waren auf Super-8-Filmmaterial und dann kam das elektronische Video. Mit der Videokunst und ihrer Ästhetik hatte ich sofort meine Probleme, für mich war das eine unzulässige Vermischung von Medien. Wie siehst Du das?
Wolfgang Georgsdorf: Ui, so viele Themen, zu denen wir uns da weggeben könnten! Du sagst, in den 80er Jahren herrschte noch Optimismus, trotz der damals herrschenden Widrigkeiten. Ich sehe auch jetzt noch Optimismus, trotz der heute oft noch monströser erscheinenden Widrigkeiten. Wir werden so bald keine Zeit erleben, in der kollektiver Selbstmord oder kollektive Fortpflanzungsverweigerung zum guten Ton gehören. Mit 16 hatte ich eine irgendwo überflüssige schachtelförmige S8-Kamera Marke Revue bekommen. Bei einer der ersten Filmaufnahmen damit, ein Rugbyspiel auf einer Wiese, hatte ich vergessen, den Objektivdeckel abzunehmen, eine milchig trübe, halbtransparente Weichplastikkappe. Der Film war weiche, neblige Malerei. Stumme bewegte Farbflecken, als Figuren erahnbar. Sowas konnte schon die Sicht aufs Sehen verschieben – und entfesselte die Kamera als Werkzeug. Dann kam S8 versus Videokunst. Wobei mir im Experimentalprozess zunächst keine »Vermischung« unzulässig erscheint. In der Kunsthochschule habe ich Videos von dem Skelett gemacht, das für anatomisches Zeichnen Modell stand, mit einem Akai-Video, so einer Bandmaschine mit dickem Kabel. Und daneben hatte ich einen großen Eimer Fliegenmaden ausschlüpfen und ausfliegen lassen. Ein Erlebnis in Schwarz-Weiß. Ich möchte mal wissen, ob das Band wieder auftaucht und ob noch was zu erkennen ist. Überhaupt ist das meiste aus dieser Zeit verloren gegangen. Manchmal gibt’s wieder überraschende Funde. Fotos, Bilder, Videos, S8-Filme, vieles ist verloren, auf einem der Umzüge, Auszüge, Auslagerungen, Malheure... so ist das.
In Linz gab es in meinem Gesichtskreis allenfalls Hochkultur oder Kindertheater, Volksblasmusik, ein bisschen zeitgenössische Bilderkunst, einige tolle einzelne Erscheinungen neuer Musik. Der Komponist Alfred Peschek war mein Musiklehrer, er hatte mich, als ich 15 war, eingeladen, in einem Stück von Stockhausen mitzuwirken, das er in der Galerie Maerz aufgeführt hat. Ein erfrischender Kick. Bald darauf empfand ich Punk als starke Kraft in der Selbstenthemmung gegenüber Beschränkungen, Konventionen, von denen mir so viele sinnlos, ja leblos erschienen. Das im Grunde angstgesteuerte bürgerliche Klima war nicht gerade einladend für Forschung. Oder für das, was ich unter Forschung verstand und weitgehend auch heute noch verstehe.
Franz Xaver: Da höre ich verschiedene Themen raus, die mich auch sehr interessieren: Das eine ist natürlich der Optimismus, der für Dich ja ungebrochen scheint. Ich sehe diesen eigentlich nicht, vielleicht weil ich mich zu sehr mit der Informationstechnologie auseinandergesetzt habe. Das andere Thema sind unsere Altlasten, jene Dinge, die in Kartons nun schon Jahrzehnte lagern und irgendwann aufgearbeitet werden müssten, aber vermodern..... und jene Kategorisierungen, die in unserer gegenwärtigen rationalen Informationswelt aufgegriffen werden, um Vergangenes klassifizieren zu können. Aber bleiben wir vorerst bei den Utopien der Gegenwart.
Wolfgang Georgsdorf: Es gibt ja den Optimismus oder Pessimismus des Einzelnen. Du meinst aber wohl so etwas wie einen kollektiven Optimismus, der nicht mehr vorhanden sei. Aber wo, in welchen Gesellschaften. Weltweit? In Europa? Arabische Welt? Afrika? Wenn da nirgendwo Optimismus wäre, würden oder könnten ja alle die Hände in den Schoß legen. Aber das scheint nicht der Fall zu sein. Die Leute unternehmen ja alle was, offenbar auch unter der Annahme, dass nicht alles vergeblich ist, was sie tun. Und schau‘ Dir an, welche Gegenkräfte die Widrigkeiten gesellschaftlich generieren – wenn auch oft sehr langsam. Auch unabhängig von einem Kunstkontext.
Franz Xaver: Die Utopien des Einzelnen sehe ich immer in einer Abhängigkeit zu unserem sozioökonomischen Umfeld. Hier sehe ich gegenwärtig z.B. im asiatischen Raum einen klassischen Nährboden für Optimismus. Europa stinkt dagegen ab. Eine Ursache sehe ich im Internet, die weltweite Wissenmaschine macht die Welt zum Dorf. Diese Wissenstechnologie hat aber auch ihren Preis, alles muss klassifizierbar werden, damit Maschinen diese Information im Netz transportieren können, um sie dann für die »Humans« bereitzustellen. Aber Wissen ist noch immer Macht und Geld. Es ist das Kapital und der Turbomarkt, der leider im Moment per Dekret Nährboden der Utopie sein soll.
Da wir in Europa leider nicht mitspielen, haben wir auch keine Möglichkeit hier einzugreifen. Bleibt nur mehr die Utopie des Einzelnen, die ich bei Dir und vielen meiner KünstlerkollegInnen sehe. Mit dem Rücken an der Wand aber doch noch immer eine positive Zukunft vor Augen. Ähnlich wie beim Monty-Python-Film, wo ein kämpfender Ritter nicht aufgibt, obwohl er schon alle Gliedmaßen verloren hat.
Es war auch der Kunstkontext, der sich in den 80ern mit den neuen Medien beschäftigt hat. Er war wichtig und hatte diese Utopien, aber nun sehe ich, dass die Gacke am Dampfen ist, wie man so schön sagt.
Ich habe bei unserer Zukunft auch an die Kunstuniversitäten gedacht. Ich sehe SchülerInnen, die gleich nach der Mittelschule in die Kunstuniversität wechseln und mit 24 ihren Abschluss machen, damit sie keine Jahre verlieren und gleich in unsere schöne neue Kreativ-Welt einsteigen können. Ich denke, da müsste man beginnen, wenn man was ändern will.
Wolfgang Georgsdorf: Themen! Jetzt mach ich dir ein T-Shirt: »Das Paradies ist reine Nervensache«. Die Welt ist ja nicht nur ein Dorf, sondern schon sehr groß, weil ja Dasein und Denken etwas mehr als ein kleiner, vermüllter, blutverschmierter Planet der Reflexe ist, und alleine diese Spielräume außerhalb wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hamsterräder sind beträchtlich. Eine meiner Freuden ist der Luxus der Improvisation: Die Freiheit zu scheitern. Mit dem Rücken an der Wand fühle ich mich nicht, weil ich ja keine riesigen Geschäfte betreibe, und da gibt’s dann auch nix zu kollabieren. Geistig oder seelisch kann man sich und anderen jederzeit Lebendigkeit wünschen. Also schauen, dass man nicht zu schnell Birne Helene wird. Aber im Angesicht eines unweigerlich auf uns zukommenden Todes stehen wir eh kollektiv »mit dem Rücken an der Wand«, wie Du es nennst. Besonders, wenn man sich als Individuum zu wichtig nimmt. Da werden dem einen oder anderen schon mal die Sicherungen warm. Und dann wird’s auch weiterhin die geben, die vorne immer noch mit Krawatte lächeln, wenn hinten schon alles wegbröselt. Zu der von Dir angesprochenen Utopie des Einzelnen kann ich sagen, die ist wandelbarer, wendiger und weniger gefährdet, zu einer Ideologie zu verholzen, wie das mit einer kollektiven Utopie gerne mal geschieht. Damit kann man sich auch nicht so leicht in einer Gruppe verstecken.
Kunstkontext, 80er, Medien, Utopien, Gacke am Dampfen, das Grauen des Bildungssystems, Kunstuniversitäten als moderne Funktionsanstalten, Kunst- und Kulturberufe und ihre arbeitssuchenden Legionen,... weite Felder. Lassen sich halt nicht so leicht verkürzt behandeln. Naja, kann man eigentlich schon. Also in SMS-Form zum Beispiel, oder als Twitter-Dialoge. Blitzschach. Könnten wir auch mal probieren.
Mit Erwachsenen brauchst nicht mehr anfangen. Wenn Du Glück hast, kannst Du mit den Kindern anfangen und schauen, dass Du ihnen nicht schon bald nach der Geburt ihre Genialität und Hellsichtigkeit mit dem Wahnsinn zusammentrampelst, den Du Klassifizierungen nennst. Aber Turbomarkt und Kapitalismus: Glaubst Du echt, dass die langfristig noch ein ernstzunehmendes Mandat haben? Da implodieren und explodieren doch rundum Systeme der Wirtschaft und Politik. Manche langsam, manche schnell. Und sind das nicht Momente für interessante Veränderungen? Es ist halt ein Dilemma: Der offenbar erforderliche Leidensdruck ist zu gering zur Veränderungsbereitschaft, und wenn er aber dramatisch genug wird, dann ist man kaum mehr manövrierfähig. Außer Zufallstreffer durch Naturereignisse. Wie in der Evolution. Da wird mir ja wohl niemand persönliche »Utopien« verdenken. Denn erstens: Wessen sollen sie sonst sein? Zweitens: Ich arbeite an deren Umsetzung im leistbaren Rahmen und das gelingt auch so weit, dass ich den Löffel habe, weiter zu spielen. Drittens: Ich hoffe nicht auf eine positive Zukunft, sondern lasse mir die Lust an der Erfindung der Gegenwart nicht nehmen.
Und Wissen und Macht: Verschiebt sich alles. 2005 war ich zur ersten Wikipedia-Weltkonferenz »Wikimania« in Frankfurt als Vortragender eingeladen, mit meinem Konzept Hyperfilm für das Wissen der analphabetischen Welt. Also nicht-schriftliches Wissen, das ja eigentlich viel größer ist, als schriftliches. Anlass war, dass ich ein Wikipedia auch in Gebärdensprachen notwendig fand. Jimbo Wales war da und wollte das auch unterstützen. Hat sich durch Youtube und andere Tec-Monster inzwischen verschoben. Das sind dann aber auch die künftigen kalten Kriegsschauplätze. Die Steinzeit lebt!
Franz Xaver: Ich bin froh, dass mal jemand eine positive Perspektive mitbringt. Thx. Vielleicht liegt‘s daran, dass ich in anderen Bereichen tätig bin und war. Über die »Medienkunst« bin ich zu den Computern gekommen und habe mich dann dort spezialisiert. In Folge wurde natürlich das Internet und die Copyleft- bzw. die Hackerbewegung immer wichtiger. In dieser Aufbruchstimmung und mit einem neuen Anti-Kunstkontext der neuen Medien war damals auch die Position der STWST interessant. Radio FRO und servus.at wurden Mitte der 90er Jahre in der STWST gegründet.
Du hast ja diese Entwicklungen nur von der Ferne miterlebt, deswegen meine nächste Frage: Konnte, bzw. kann man überhaupt von einer Kunst der neuen Medien (Medienkunst) sprechen. »Medienkunst« wurde ja zu einem Begriff, den man in der Gegenwart eher meiden sollte.
Wolfgang Georgsdorf: Zu lange heulen bringt auch nix. Ein nennenswerter Parameter der Kreativität ist ja hohe Frustrationstoleranz. Ein Baby, wenn es gehen lernen will, steht hunderte Male wieder auf, nachdem es hingefallen ist. Es gibt nicht auf. Und erfindet seine Gegenwart ständig. Dieses Bild gefällt mir besser, als das von dem Ritter der Kokosnuss mit den abgeschlagenen Gliedmaßen. In einem von den krassen mongolischen Märchen flieht ein achtfüßiges Fohlen vor seinen Verfolgern und am Schluss ist es nur noch sein Kopf, der durch die Steppe eilt – und entkommt. Bei manchen Tieren wächst dann alles wieder nach.
Von den Klassifizierungen, die Dich beschäftigen, ist ja »Medienkunst« so eine. Also elektronische Medien. Nicht Ölfarbe, Bleistift, Tanz oder analoge Musik. Zur Grenzziehung zwischen alten und neuen, zwischen analogen und elektronischen Medien und selbst zwischen »Kunst« und »Leben« metert der Diskurs als Fach- und Sachliteratur durch die Regale. Muss das Folgen für unsere Arbeit haben? Es wird immer noch neuere Medien geben, die dann die nicht so neuen Medien wieder älter ausschauen lassen. Über Jahre hab ich den Smeller (http://smeller.net) entwickelt, ein völlig neues Medium, für das man vielleicht Generationen brauchen wird, um es als Standard ins kulturelle Leben zu integrieren. Diese Entwicklung hat eine extrem analoge Basis: Material in Form von freien Molekülen, die über die Nase im Hirn zu Gefühlen werden. Nun aber halt als Sequenzen elektronisch gesteuert und digital speicherbar.
Auch der Übergang der analogen Schaffensdelirien in unserer damaligen STWST hin zu »neuen« Medien war organisch. Alles war extrem analog, heizen mit Möbeln, Installationen beim Zerschlagen der Möbel, tote und lebende Materialien, Pflanzen und Tiere, immer auch mit Soundaufnahmen und Super 8, dann mit Video abgebildet, und weiter mit Computer bearbeitet und später schließlich zur interaktiven Disposition gestellt. In der STWST habe ich 1979 die Experimentalmusikgruppe POST mit gegründet, das fing extrem analog an. Der Gründung von FRO oder servus.at gingen Projekte wie STWST-TV voran, dem voran Hotelevision, die wir zu den Filmtagen in Wels entwickelt hatten. 1985, für ein paar Monate in Europa, bevor es wieder nach Asien ging, habe ich Georg Ritter und Thomas Lehner nach Lyon eingeladen, wo ich mit MDT war, in der freien Struktur Frigo, aus der auch Radio Bellevue hervorgegangen war.
Und all die Jahre später war es toll, zu sehen, dass und wie es in der STWST weitergeht. Und es geht ja immer noch weiter! Auch DORF TV kann man ja als eine weitere Entwicklungsstufe dieses Prozesses sehen.
Der Bogen analog-digital ist für mich so spannend wie der zwischen Künsten und Wissenschaften. Und da ist keine Disziplin fremd. Dafür gab und gibt es natürlich auch wieder Klassifizierungen: Verzetteln, Dada, Fluxus, Crossover und jetzt heißt es Interdisziplinarität. Auch wieder so ein Wort, mit dem gewuchert wird, und das den Weg seiner modischen Verdünnung geht. Wie das Greenwashing der Industrie. Alles grün. In Lehre und Forschung: Alles interdisziplinär. Theoretisch. Aber auch hier lässt sich anstatt zu spotten wieder Potenzial sehen. Mir scheint, jeder Plattform digitaler Kunst, die sich zu weit vom Analogen entfernt, geht die Körperlichkeit verloren. Heute heißt es, viele Allergien seien auf die übertriebene Abwesenheit von Dreck zurück zu führen. Allergische Reaktionen finde ich ein faszinierendes Phänomen, vor allem auch in der Kunst.