Wer vom Faschismus keinen Begriff hat, wird von ihm überrumpelt

Nachrichten aus dem Spätsommer 2015: In Bad Kleinkirchheim wirft ein Motorradfahrer einen Handböller auf ein älteres Ehepaar. Die beiden müssen ins Spital. Im Ort ist bekannt, daß das Paar demnächst in seiner Liegenschaft Flüchtlinge aufnehmen will. Das Attentat habe keinesfalls einen fremdenfeindlichen Hintergrund, läßt die Polizei verlauten.
In Wiener Neustadt schießen mehrere Burschen mit Softguns und Gummimunition aus einem fahrenden Auto auf Asylwerber am Straßenrand. Einige Asylwerber, die im Gesicht getroffen wurden, müssen ärztlich versorgt werden. Was sagt der Wiener Neustädter ÖVP-Bürgermeister, der seit 2014 in einer Koalition mit der FPÖ und den Grünen regiert? Kein fremdenfeindlicher Hintergrund, die vier hätten auch schon auf Österreicher geschossen.
In Seekirchen am Wallersee kommt es zu einem Brandanschlag auf ein leerstehendes ÖGB-Heim, das für Flüchtlinge adaptiert werden soll.
In einem Flugblatt an jeden Haushalt trommelt die Kärntner FPÖ mit ihrem Landesrat Ragger fanatische Haßparolen: Die Rede ist vom Asylschlaraffenland Österreich und es wird behauptet, alte Menschen würden von den Fremden aus den Pflegeheimen verdrängt. Eine Fotomontage zeigt dunkelhäutige Menschen, die in Österreich einfallen.
Im Internet kursieren Hunderte Haß-Postings, durchaus mit eigenem Namen, die Kriegsflüchtlingen, auch Frauen und Kindern, den Tod durch Vergasung oder Flammenwerfer wünschen. Einige Haß-Poster werden an ihrer Arbeitsstelle gekündigt, die große Mehrzahl bleibt unbehelligt.
In Ossiach soll ein Flüchtlingszentrum in einem leerstehenden Gebäude eingerichtet werden. Der FPÖ Bürgermeister boykottiert den Plan, er weigert sich, das Haus bezugsfertig zu machen und schützt Erfordernisse der Raumordnung vor, jene Raumordnung, auf die Bürgermeister pfeifen, wenn ein Investor mit einem dicken Kuvert anrückt.
Im Burgenland droht Landeshauptmann Niessl eine Volksabstimmung über ein Bundesgesetz zur Flüchtlingsunterbringung an. Wenn die Bevölkerung dagegen ist, soll der Bund nicht einmal in Bundesgebäuden Asylwerber unterbringen dürfen. Direkte Demokratie Marke SPÖ-FPÖ Koalition in Eisenstadt.[1]
Menschen, die Flüchtlinge beherbergen wollen, werden mit Böllern und Asylwerber mit Gummimunition beschossen, fanatisierte Wutbürger wollen Kinder wie Insekten mit Flammenwerfern ausradieren, Bürgermeister und Landeshauptleute verhöhnen den Rechtsstaat. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Und alle wissen: Mit den üblichen demokratischen Mitteln ist diesem Ungeheuer, das sich seit mehr als zwei Jahrzehnten durch die Eingeweide des bürgerlichen Staats frißt und immer mächtiger und aggressiver wird, nicht mehr beizukommen. Wer Faschisten die Hand reicht, darf sich nicht wundern, wenn er mit einem Stumpf zurückbleibt.
Warum verhalten sich die Spitzen der Republik so dumm und so zögerlich? Wieso starren sie wie das Kaninchen auf die Schlange auf jene Partei, die außerhalb Österreichs durchgehend als rechtsextrem bezeichnet wird? Warum unternehmen sie nichts gegen die xenophob-chauvinistischen

Trommler im Land?

Es gibt dafür naheliegende Gründe. Sorge um den Machterhalt und die Pfründe. Feigheit vor dem politischen Feind. Der Versuch, die Dinge einfach auszusitzen. Ins Bodenlose gesteigerter Fatalismus. Eine Mischung aus all dem.
Über einen Grund wird selten gesprochen. Er liegt unter der politischen Oberfläche. Er lautet: Begrifflosigkeit. Man hat keinen Begriff von dem was ist, und man hat keinen Begriff von dem, was auf uns zukommt. Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein, sagt Mephistopheles in Fausts Studierzimmer. Mephisto weiß: Dieses Wort zur rechten Zeit ist wahrlich ein Wort zur rechten Zeit, es kündet vom fehlenden Begriff, schafft Verwirrung und Chaos und eröffnet ein Vakuum, das rasch von jenen erobert wird, die nichts so sehr hassen wie Begriffe und Worte, die ihre Untaten korrekt beschreiben.
Wer meint, Worte und Begriffe seien im Computerzeitalter unnütze Sophistereien, der sitzt einem grundlegenden Irrtum auf. Begriffe sind Knotenpunkte der Erkenntnis, sie sind Werkzeuge des Denkens und informieren Denken und Handeln in der Praxis. Wer einen Nagel in eine Wand schlägt, wird dazu keinen Kamm verwenden. Wer die Wirklichkeit gedanklich erfassen will, um daraus Handlungen abzuleiten, wird mit untauglichen Begriffen scheitern.
Ein derartiger Begriff ist der des Populismus. Er wurde einst verwendet, um den argentinischen Caudillo Peron, der bei Mussolini lernte und Hitler bewunderte, zu erfassen. Ein weiterer Urvater des Populismus war der kleinbürgerliche französische Steuerrebell Poujade, in dessen antisemitischer Partei Jean Marie Le Pen in den fünfziger Jahren ins Parlament einzog. Das Etikett Populismus erfuhr in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance, als immer mehr single issue [2] Parteien und Gruppierungen auftauchten, die gegen einzelne Erscheinungen des kapitalistischen Weltmarkts ankämpften, ohne dessen Grundlage in Frage zu stellen. Tatsächlich verschleierte der Begriff die soziale Wirklichkeit in Bruchzeiten einer traditionellen Elitenherrschaft, die von den Spitzen der Arbeiterbewegung mitgetragen wurde. Er verschleiert die Tatsache, daß es sich bei der Neugruppierung des rechten Rands um öffentlich ablaufende Faschisierungsprozesse handelte. Wie sehr der Begriff »Populismus« zum Kampfbegriff gegen die adäquate Erfassung der sozialen Prozesse heranreifte, wird deutlich, wenn man das Diktum »Faschismuskeule« untersucht. Ergebnis: Die Freunde des Populismus-Begriffs werfen auch mit dem Vorwurf der »Faschismuskeule« um sich. Der Zweck der Übung ist klar: Der Begriff Faschismus verrottet am Misthaufen der Geschichte, er darf keinen Bezug zur Gegenwart haben. »Niemals wieder« bezieht sich heutzutage auf die Verwendung des Begriffes Faschismus und seiner Abkömmlinge. Er ist somit ein Indiz für die Faschisierung der Gesellschaften. Der Begriff der »Faschismuskeule« ist seinerseits zu einer Keule geworden. Tatsächliche faschistische Handlungen werden nicht mehr als solche bezeichnet, sondern mit ausweichenden, kalmierenden Worten umschrieben. Das bedeutet aber nichts anderes, als die Durchsetzung eines Begriffs-Verbots in der Faschismus-Diskussion.
Tatsächlich aber ist in Österreich, aber auch in Ungarn, in Frankreich, in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Schweden, Finnland, der Slowakei und den baltischen Staaten die Frage nach dem sozialen Gehalt und der gesellschaftlichen Tiefe faschistoider (rechtsextremer) Bewegungen [3] und Parteien virulent.
Gibt es den Faschismus überhaupt noch oder ist er im Orkus der Geschichte verschwunden? Hinterließ er bloß Derivate und Zerfallsprodukte, die einmal als patriotisch heimatbewußt, dann wieder als rechtspopulistisch, ultranationalistisch, politisches Rowdytum oder Lausbubenstreich abgetan werden? Ist es ein Zufall, daß in Staaten, in denen rechtsextreme und faschistoide Parteien Zulauf haben, ein gesellschaftliches Klima und eine von der Journaille aufgehetzte Stimmung sich ausbreitet, in der Einzelaktionen sogenannter unpolitischer Einzeltäter à la Franz Fuchs bei zivilgesellschaftlichen Aktivisten Terror und Einschüchterung erzeugen und ein Klima der Hysterisierung begründen, welches wiederum rechtsextremen Parteien in die Hände spielt? Die Lagebeschreibung wäre unvollständig, würde man nicht darauf verweisen müssen, daß diejenigen, die verbalheroisch gegen den rechten Ungeist wettern, über Jahre und Jahrzehnte jene tabloids mit Inseraten fütterten und füttern, die in ihrem Hurra-Patriotismus und Alltagsrassismus damals das Geschäft Haiders und jetzt das der Strache-Kickl-FPÖ besorgen. Wenn Herr Faymann und Herr Häupl den Antifaschisten geben, sollte man ihnen die aus Steuermitteln stammenden Werbe- und Inseratenausgaben für die Boulevardmedien, die tagtäglich das Geschäft der FPÖ betreiben, vorrechnen.
Versucht man, einige Merkmale faschistoider Gruppierungen zu benennen, lassen sich einige stichwortartig festhalten.
Zuerst einmal muß zwischen einem Faschismus an der Macht und einem Faschismus im Kampf um die Macht unterschieden werden. Je nachdem können dabei einmal die parlamentarischen, dann wieder die bewegungsaffinen Dimensionen im Vordergrund stehen. Faschistische oder faschistoide Parteien verstehen sich auf beides – siehe die Jobbik in Ungarn. Wer den Faschismus nur am kriegführenden und zum Äußersten treibenden deutschen Faschismus mißt und sein Auftreten vor der Machtergreifung ausblendet, vermag gegenwärtige faschistoide Gruppierungen nicht zu erfassen. Die NSDAP der zwanziger Jahre unterscheidet sich in Stil und Inhalt stark von der NSDAP an der Macht; manche Hitlerreden aus den zwanziger Jahren wirken als stammten sie von Wahlkampfauftritten der FPÖ am Viktor Adler-Markt in Wien-Favoriten: geheuchelter Antikapitalismus, virulenter Antisemitismus, die Verhöhnung und Beschimpfung der politischen Klasse, offener Rassismus und Chauvinismus jeweils in zugespitzter Form. Die physische Vernichtung des politischen Gegners wird als Ziel nie ausgesprochen, sie ist der Propaganda aber immanent und wird von Rednern und Zuhörern immer mitgedacht.
Ein wesentliches Merkmal faschistoider Bewegungen ist der fortgesetzte, sich stetig radikalisierende Tabubruch. Tabus sind geronnene historische Erfahrungen und haben ihre Berechtigung. Die Funktion der Tabubrüche ist es, das politische Feld zu erweitern, sie eröffnen neue, vorgestern noch nicht zugängliche politische Räume. Noch treten Tabubrüche vorwiegend als sprachliche Grenzüberschreitungen auf. Die Überfremdung ist bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen – mit dem kleinen braunen Bruder Umvolkung im Schlepptau. In letzterem ist der Mordanschlag schon eingeschlossen, der Böller schon geworfen.

[1] Niessl ist aber in der SPÖ kein Abweichler. Er vertritt eine Position, die in der Partei, vor allem in den Ländern und den Gewerkschaften, längst mehrheitsfähig ist.
[2] In Österreich trifft der Begriff Populismus am ehesten auf das Team Stronach zu. Rhetorische Empathie für Arbeiter, naives Wertegeklingel, aber keine ausgeprägte faschistoide Schlagseite. Seine Funktion für das Herrschaftssystem erfüllte es bei den letzten Nationalratswahlen, als es einen durchschlagenden Erfolg der FPÖ verhinderte und damit der regierenden Koalition eine weitere Legislaturperiode ermöglichte. Daß es jetzt zerfällt, hängt weniger mit den Schrullen des Parteiführers, sondern mit den gesellschaftlichen Widersprüchen zusammen, die mit einer stark wachsenden Arbeitslosigkeit, einem Staatsstillstand infolge einer Doppelherrschaft zwischen starken Bundesländern und einer schwachen Regierungsspitze und einer hilflosen Flüchtlingspolitik umrissen sind. Die Zeit für »Populisten« ist abgelaufen, nun treten semifaschistische oder faschistoide Parteien und Gruppen auf den Plan.
[3] Man kann den Unterschied zwischen rechtsextrem und faschistoid so beschreiben: Die Rechtsextremen distanzieren sich gern von den Auswüchsen des Nazi-Faschismus; die Faschistoiden, Proto- oder Parafaschisten knüpfen in ihrem Auftreten und ihren politischen Codes direkt an den NS-Faschismus an. Oft finden beide Strömungen in einer Partei oder einem rechten Block Platz – siehe Ungarn, siehe FPÖ. Je nach Opportunität wird die zivilere oder die martialische Karte gezogen. Ein rechter Block vor der Machtergreifung erhöht dadurch seine Geschmeidigkeit und Wendigkeit.

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