Fritz Lang als Täterschützer

Paulette Gensler erinnert an den Bürger in der Regie.

Nicht nur in der linken Szene ist der Vorwurf des Übergriffs und vor allem auch die Diffamierung als Täterschützer mit erheblichen persönlichen Konsequenzen verbunden. Die vermeintlichen oder reellen Vergehen, auf die sich das Strafbedürfnis stürzt, sind hierbei meist im Bereich des Sexuellen verortet und begründen sich über den Opferschutz. Auch in den Berliner U-Bahnen fragen seit Jahren Plakate der allgemeinen Opferinitiative Weißer Ring: »Wenn alle den Täter jagen, wer bleibt dann eigentlich beim Opfer?« Nun kann man sich jedoch fragen, wieso der Idee einer Jagd nach dem Täter gerade nicht widersprochen wird. Angedeutet wird hier schon, dass es eben nicht nur die Polizei ist, welche nach dem vermeintlichen Täter oder dem Beschuldigten fahndet, sondern zunehmend auch andere Personen aus dem Umfeld der betroffenen Person sich um die Angelegenheit zu »kümmern« gedenken. Tatsächlich bleibt unter diesen Umständen das Opfer allein.

Dagegen sei hier zweier Stücke erinnert: Vor nunmehr 85 Jahren begann Fritz Lang in Berlin die Dreharbeiten zu seinem Film »M – Eine Stadt sucht einen Mörder«, welcher 1931 uraufgeführt wurde. Fünf Jahre später – Lang hatte Deutschland fluchtartig verlassen, nachdem ihm, der nach nationalsozialistischer Gesinnung als »Halbjude« galt, Goebbels die Leitung des deutschen Films angeboten hatte – schaffte er nach der Emigration in die USA 1936 mit dem Film »Fury« seinen Einstieg in Hollywood.

Beide Filme haben die Selbstjustiz infolge von Sexualverbrechen zum Grundthema und können wohl mit Fug und Recht als die besten Arbeiten des Regisseurs betrachtet werden. Fritz Lang war sich sympathischerweise der beschränkten Wirkung seiner Werke durchaus bewusst: »Wenn ich einen Film über das Lynchen drehe, kann ich nicht erwarten, dass das Lynchen aufhört. Ich kann nur meinen Finger draufhalten. Sonst sollte ich Politiker werden.«[1]

Lang, der in den USA in engem Kontakt mit Eisner, Brecht und Adorno stand und arbeitete, war als Pionier des Films zeit seines Schaffens ständigen Reibungen und Konflikten mit den Produzenten und Zensurbehörden ausgesetzt. Er galt als absoluter Perfektionist, der mit jedem Detail experimentierte. Sehr heruntergebrochen kann man sagen, dass die Vorwürfe gegenüber seinen Vorhaben stets lauteten, dass sie entweder zu kritisch und subversiv oder in der Umsetzung schlicht zu aufwendig und teuer seien. So sehr er sich in vielen Dingen beugen musste, kann man ihm durchaus zugutehalten, dass er sich wenigstens immer wieder aufs Neue von außen zwingen ließ, anstatt selbst die Anforderungen des Marktes zu verinnerlichen und abzuspulen. Am Ende seines Lebens jedoch stellte auch er resigniert fest: »Heute nenne ich den Film eine Industrie. Und er hätte Kunst sein können. Man hat eine Industrie draus gemacht. Man hat die Kunst getötet.«(S. 121)

Der Film M ist wohl als bedeutendster persönlicher und künstlerischer Wendepunkt im Leben des Regisseurs zu betrachten. Er, der sich mit der Schöpfung zweier Lieblingsfilme Hitlers (Nibelungen und Metropolis) die Einladung Goebbels durchaus selbst eingebrockt hatte, entfremdete sich zunehmend von seiner Noch-Ehefrau und Drehbuchautorin Thea von Harbou, welche sich nun wiederum wesentlich offener zu ihrer Sympathie für den Nationalsozialismus bekannte. Fritz Lang distanzierte sich später zwar sehr deutlich von den Filmen, jedoch nie von seiner Verantwortung für jene: »Die Hauptthese war von Frau von Harbou, aber ich bin wenigstens zu fünfzig Prozent verantwortlich, weil ich den Film gemacht habe. Ich war damals nicht so politisch bewußt.«(S. 55) Seine politische Mündigkeit entwickelte er während der Arbeiten an M – seinem ersten Tonfilm.

Zunächst skeptisch dem neuen Medium gegenüber, setzte er mit seinem Debüt M gleich einen Meilenstein in dem Genre und sollte nie wieder zum Stummfilm zurückkehren. Der radikale Verzicht auf Filmmusik und naturalistische Hintergrundgeräusche verweist auf seine Abkehr von den vormaligen Phantasmen und Ornamenten sowie auf die Hinwendung zu einem Realismus, der zwar von der Neuen Sachlichkeit beeinflusst war, ihr aber glücklicherweise nie komplett entsprach. Vor allem die spät- beziehungsweise nachexpressionistischen Züge ließen M und später Fury zu richtungsweisenden Vorläufern des film noir avancieren.

Die späteren Werke Fritz Langs fundierten auf einer ausgeprägten Recherche der Faktenlage seines Gegenstands. Dies verleitete zahlreiche Kritiker, seine Arbeiten als Filmreportagen zu klassifizieren. Dabei unterschlagen sie jedoch den maßgeblichen Abhub von den reinen Fakten. Sein eigener Anspruch bestand darin, »über die Aufgabe der künstlerischen Reproduktion von Geschehnissen hinaus(zu)wachsen.«(S.69) In diesem Sinne ist die Darstellung seiner Filme immer auch Verurteilung der Realität. Man könnte es als engagierte Kunst betrachten, die auf Parolen verzichtet und ihre didaktische Wirkung über ihre negativen Momente entfaltet. Ein Großteil der Wahrheit beider Filme ist sogar eher in dem Nichterlaubten und -verwirklichten zu finden, wie auch in dem, was in Neuauflagen verändert wurde.

Die Handlung von M dreht sich um die Taten eines pädophilen Serienmörders und deren Auswirkungen auf die restliche Großstadt. Nach dem neunten Mord beginnt sich die Großfahndung der Polizei, welche durch Razzien zunehmend die illegalen Geschäfte des kriminellen Milieus stört, um eine gleichzeitige Hetzjagd durch die Ringervereine zu erweitern. Beide stehen hierbei unter dem Druck der öffentlichen Meinung. Die Gerüchte verbreiten sich in rasanter Geschwindigkeit und lassen sich nicht mehr kontrollieren, sodass der Mob wahllos Unschuldige auf der Straße angreift. Der Druck der Polizei überträgt sich auf die Kriminellen und in eindrucksvollen Parallelmontagen werden die Bemühungen der beiden scheinbaren Antagonisten in Szene gesetzt. Das Milieu stellt sich endlich als effizienter heraus, fasst den Gesuchten und beschließt in einem absurden Schauprozess seinen Tod. Sein schnell eingesetzter Zwangsverteidiger, der zudem massiv betrunken ist, fordert in seinem Plädoyer, »dass diesem Menschen der Schutz des Gesetzes zuteilt wird, auf den auch der Verbrecher Anspruch hat!« Gegen das Rache- und Strafbedürfnis der restlichen Delinquenten im Tribunal kommt er jedoch nicht an. Durch den Beschluss seines Todes verzichten sie gleichzeitig auf die ausgelobte Belohnung von stattlichen 10.000 Reichsmark und beweisen somit, dass sie die rein ökonomische Motivation längst verlassen haben. Der Mord kann aber von der im letzten Moment anrückenden Polizei verhindert werden.

Wie drastisch die Konzeption des Filmes war, zeigt sich in dem US-amerikanischen Remake 1951 durch Joseph Losey. Lang selbst hatte eine Neuverfilmung seines eigenen Werkes strikt abgelehnt. In dem langschen M wurde der sexuelle Missbrauch der Kinder nicht ausdrücklich genannt, aber definitiv impliziert; in der Ausführung Loseys hingegen wurde ganz explizit darauf verwiesen, dass ein Missbrauch durch den Serienmörder nicht stattgefunden habe. Zusätzlich führte Losey einen Psychologen in das Ermittlerteam ein, der eine genauere Deutung des Täters ermöglichen sollte, da Langs Verfilmung mehrmals vorgeworfen wurde, ein zu ungenaues Bild des Mörders zu zeichnen. Die Pathologie des langschen Täters schildert dieser nur selbst in seinem eigenen Plädoyer, das er direkt an das Publikum des Films richtet. In seiner Bitte um Gnade trägt er die eindringliche Schilderung seiner Determiniertheit vor, die den ganzen Film in dem schiefen Leitmotiv des von dem Mörder schlecht gepfiffenen Stückes »In der Halle des Bergkönigs« aus Griegs Peer Gynt Suite Nr. 1, Op.46 anklingt. Was den Film über als Erkennungszeichen des Täters dient, deutete schon auf sein Ende im Tribunal. Der bewusste Einsatz von Klischees führt diese beständig selbst wieder ad absurdum. Die Verbrecher beispielsweise werden als Klein- und Spießbürger inszeniert und romantisiert, um sie später fallen- beziehungsweise auf den Täter loszulassen und somit die Aufhebung der Grenze zwischen Delinquenz und Legalität nachzuzeichnen, auf welcher die Vergehen des Mobs beruhen. Die zeitgenössische Presse erkannte in dem Film entweder eine Verharmlosung des Täters oder aber ein Plädoyer für die Todesstrafe. Dabei verwechseln beide Ansätze den Unterschied von Stoff und Aussage. Als Urteile laufen sie somit grundsätzlich fehl, denn der Film wirkt gerade durch seinen Verzicht auf jegliche Tendenz und durch sein Herausstellen des kategorialen Widerspruchs, mit dem das Dilemma behaftet ist. Der Täter wird erst zum Opfer durch die Täterjagd des Volksmobs, bleibt dabei aber stets Täter.

Seine Vergehen, die nie auf der Leinwand präsent sind, werden indirekt sehr wirkungsvoll in Szene gesetzt. Inwieweit aber irgendwelche Faktoren seine tatsächliche Schuld mindern, wird im Film keineswegs erwähnt, da sie eine Sphäre bilden, die den Film gar nichts angeht. Zu diesem Zweck ließ Lang nach der Premiere auch die staatliche Gerichtsverhandlung und das Todesurteil als Schlussszene streichen. Seine Recherchen verwiesen ihn auf »eine fast gesetzmäßig sich wiederholende Erscheinung der Begleitumstände, wie die entsetzliche Angstpsychose der Bevölkerung, (…) Denunziationen, in denen sich der Haß und die ganze Eifersucht, (...) zu entladen scheinen.«(S.68f)

Auf diesen Begleitumständen liegt der Fokus der Arbeit Langs. Der ohnmächtige, nicht aufgehobene Widerspruch bleibt schon durch die zwei fatalistischen Schlusssätze der Mutter eines Opfers erhalten: »Davon werden unsre Kinder och nich wieder lebendig. Man muss halt besser uffpassen uff de Kleenen.« Wie dies geschehen möge, bleibt dabei unbeantwortet und überlässt die Zuschauer ihrer eigenen Ambivalenz. Indem die Moral der Geschichte in dieser entleerten Phrasenhaftigkeit verkündet wird, zwingt das Werk zu einer Reflexion, die dem Begriff der Moral erst wirklich entsprechen könnte. An diesem Punkt muss sie jedoch nicht mehr als Moral auftreten und kann sich somit dem repressiven Moment derselben verweigern.

Der ursprüngliche Titel »Mörder unter uns«, der die Deutung als Singular sowie als Plural zulässt, musste fallen gelassen werden.

Der Inhalt von Fury stellt sich zumindest in der realisierten Fassung etwas anders dar. Aufgrund einer Verwechslung wird Joe Wilson bei der Durchreise in einer Kleinstadt für einen Kindesentführer gehalten und verhaftet. Obwohl seine Schuld zu jeder Zeit sehr fragwürdig erscheint, formiert sich ein Mob, der, nachdem es ihm nicht gelang in das Gefängnis einzudringen, dieses kurzerhand niederbrennt. Joe jedoch konnte entkommen und bereitet sich auf seine (juristische) Rache vor, da seine Unschuld durch das Ergreifen der wahren Täter mittlerweile bewiesen ist. In Fury wird das Opfer also zum »Täter« durch den Lynchmob, obwohl oder gerade, weil es unschuldig ist. Das versöhnliche Ende des Filmes inklusive Kussszene wurde Fritz Lang aufgezwungen und er selbst verabscheute diesen Ausgang. Jedoch muss man bedenken, dass seine ursprüngliche Konzeption sehr anders gefasst war.

Geplant hatte er als Ziel des Mobs eigentlich einen schwarzen Anwalt, der tatsächlich eine weiße Frau vergewaltigt hat. In all diesen Belangen musste sich Lang seinen Produzenten beugen, die Protagonisten verlangten jemanden, mit dem sich das anvisierte Publikum würde identifizieren können und der deshalb weiß, Arbeiter und vor allem unschuldig sein müsse. Ein späterer Film eines anderen Regisseurs »To Kill a Mockingbird« aus dem Jahre 1962 griff die Thematik wieder auf und wählte einen schwarzen Beschuldigten. Doch auch dieser blieb mit der Aura der Unschuld geweiht. Keineswegs hat Lang aber die sozialen Implikationen des Mythos des schwarzen Vergewaltigers missverstanden, wie es teilweise behauptet wird, sondern er wusste, dass er an der pathischen Projektion mit einem Film nicht wird rütteln können, da sie auch von sachlichen Argumenten kaum ansprechbar ist.[2] Selbst die absolut vorbildlich stumpfe Darstellung des Triebtäters in M erfolgte nicht aus Ignoranz, sondern erfüllt eine klare Funktion im Werk. Die tief gehende Solidarität erwächst in beiden filmischen Konzeptionen des Täterschutzes gerade aus dem Klischeehaften und Stereotypen der Täter sowie aus ihrer tatsächlichen Schuld. Rechtliche Solidarität gilt also selbst oder gerade dem scheinbar Schlimmsten der jeweiligen Vorstellungen und das als gerechtfertigt angesehene Lynchen steht somit zur Verurteilung. Jegliche Spezifizierung – also eine Delegitimierung der Selbstjustiz durch die Unschuld des vermeintlichen Täters – steht diesem kategorischen Einspruch massiv entgegen, weshalb Fury in seiner umgestalteten Form sehr an Kraft verlor.

Die hier von Lang inszenierte Masse unterliegt in den beiden späteren Filmen einer wesentlich weiter entwickelten und verfeinerten Betrachtung als jener gesichtslose, anonyme Mob aus Metropolis. Vor allem in den jeweiligen Gerichtsprozessen werden die verschiedenen Menschen herausgehoben, die eben noch in ihrem Herdenverhalten äußerst praktisch bewiesen haben, dass ihre jeweilige Vereinzelung keineswegs mit Individualität zu verwechseln ist. Die Masse ist die geballte Zusammenkunft der autoritären Charaktere. Der Film nimmt die durch die verschiedenen Gesichter suggerierte Individualität wieder zurück, aber nicht die individuelle Verantwortung der Beteiligten. Dem zugutekommt nach Langs eigener Aussage, »die Fähigkeit der Kamera, das Detail einzufangen.«(S. 93)

Auch der Mythos der »friedfertigen Frau« (M. Mitscherlich) wird in beiden Arbeiten genüsslich zerlegt. Frauen partizipieren sowohl am Verbrechertribunal als auch an dem Lynchmob und stehen ihren männlichen Kumpanen in ihrem Fanatismus und Strafbedürfnis in nichts nach.

M und Fury – wie auch in schwächerer Form zahlreiche weitere Filme des Regisseurs – sind eine rein negative Verteidigung bürgerlicher Errungenschaften, wie Rechtssicherheit, Gewaltenteilung, Vorrang des Gesetzes und Individualität, indem sie aufzeigen, welche Konsequenzen die negative Aufhebung derselben mit sich bringt. Sie beweisen, dass sich radikal bürgerliche Forderungen dem Publikum weit weniger anbiedern, als oft behauptet. Zu sehr widersprechen sie immanent dessen reeller Verfasstheit und den daraus erwachsenden regressiven Bedürfnissen. Genau dieser Täterschutz gegen die Massen, nicht gegen das Recht, ist der konsequente langsche Antifaschismus, der dem Volksempfinden sehr viel mehr widersprach als es die meisten explizit engagierten Kunstwerke jemals vermochten.

Das Eintreten gegen die Repression der übersteigerten Sexualmoral bedeutet somit immer auch den durch Aufklärung und Bürgertum etablierten rechtlichen Täterschutz, der über die reine Unschuldsvermutung hinausgeht, derer er aber zwingend bedarf, um gegen die Angriffe der Allgemeinheit zu verteidigen. Dem Triebtäter gebührt Solidarität als negative Individualität. Die Furcht vor ihm und der von ihm scheinbar ausgehenden Zersetzung der Gemeinschaft ist allgemein ebenso präsent wie die Glorifizierung der Banden von Berufsgewaltverbrechern in Gangster- und Mafiafilmen. Mit dem »Spekulanten« ist der Triebtäter in gewisser Weise der Jude unter den Verbrechern und somit Personifikation des Unfassbaren – sei es die abstrakte Form des Kapitals oder das Unbewusste.

Alle Fritz Lang-Zitate stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus Töteberg, Michael: Fritz Lang. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg. 2005.

[1] Lang zitiert nach: Fritz Lang und seine Filme S. 184
[2] Pathische Projektion meint hier, dass eigene Triebregungen, welche aufgrund ihrer Unkompatibilität mit der Außenwelt verdrängt werden müssen, in anderen Menschen scheinbar »wiederentdeckt« werden. Da solche Externalisierung nicht ausreicht und die Regungen nach wie vor präsent sind, richtet sich der Vernichtungswunsch gegen die angeblichen Träger. Es ist eine Projektion, die nie der Bewusstwerdung anheimfällt und aufgrund ihrer Unbewusstheit nicht durch rationale Argumente erreicht werden kann. Die Treibjagd auf den Triebtäter ist somit selbst eine Triebtat.

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