Asylkritik über Alles
Die Zustände im niederösterreichischen Erstaufnahmelager Traiskirchen wecken bei Abdul Hussain*, der seit ein paar Tagen erst volljährig ist, tiefgehende Assoziationen. Erfahrungen, die ihn vor nicht allzu langer Zeit in die Flucht trieben: auf der Straße nächtigende Familien, die auf zerfetzten Laken liegend Kleinkinder und Angehörige versorgen; die brütende Hitze, die gegen Abend niedrigeren Temperaturen weicht und gesundheitliche Probleme mit sich bringt. Chaos und Ausweglosigkeit – kurz: die Hölle auf Erden.
Die lange Reise, die er vor drei Jahren aus Somalia angetreten hatte, um in Europa ein menschenwürdigeres Leben in Sicherheit und Freiheit vorzufinden, stellte sich nicht erst in der niederösterreichischen Kleinstadt als Höllenritt heraus. Während er in Ungarn mehrere Wochen lang der willkürlichen Folter ungarischer Beamten ausgesetzt war und bis heute die Spuren behördlicher Gewalt an seinen Gliedmaßen ersichtlich sind, findet er auch in Österreich keine Ruhe. Nicht nur die Schikanen »besorgter Bürger«, die mittels Spontandemonstrationen gegen »Überfremdung« in der niederösterreichischen Kleinstadt für Angst im Flüchtlingslager sorgen[1], auch die menschenunwürdigen Zustände in der Erstaufnahmestelle; die Engpässe in der Lebensmittelversorgung, die Verzweiflung unter den Einkasernierten sind es, die nicht nur Abdul Hussain regelmäßig Panikattacken bereiten.
Die ehemalige Kaserne in Traiskirchen fungiert seit 1955 als sogenannte »Erstaufnahmestelle Ost«. Von Anfang Jänner bis Ende Juni 2015 waren es 28.311 Asylanträge, die in Österreich gestellt wurden – mehr als zwei Drittel der Antragssteller stammen ursprünglich aus Afghanistan, Syrien, Irak und Pakistan. Während mehr als ein Viertel davon unbegleitete, minderjährige Männer sind, ist nur jede fünfte Geflohene eine Frau.
Während österreichische Repräsentanten behaupten, Österreich würde die Hauptlast der Flüchtlingsströme tragen, so straft ein kurzer Blick auf die offiziellen Zahlen diese Behauptung Lügen. Der syrische Flüchtlingsstrom etwa, der sich seit 2012 verstärkte, belastet primär die Nachbarstaaten Syriens. Seit den seit 2011 vorangehenden Protesten gegen das syrische Assad-Regime waren bis zu zwölf Millionen Menschen gezwungen, ihr Haus zu verlassen, während acht Millionen »internal displaced people« sind – also innerhalb Syriens ausharren. Die wenigsten in die Flucht Getriebenen erreichen jemals die Außengrenzen der Europäischen Union – vier Millionen der geflohenen Syrer leben im Libanon, in Jordanien oder der Türkei. Während diese drei Staaten die Hauptlast der Flüchtlingsströme tragen, gelangten bisher lediglich ca. 250.000 registrierte Flüchtlinge in die Europäische Union. Das hängt unmittelbar auch damit zusammen, dass die Preise für einen Schlepper von Syrien nach Österreich bis zu 12.000 Euro betragen, und die wenigsten Syrer diesen finanziellen Aufwand bewerkstelligen können.
Während im »Lager Traiskirchen« momentan rund 4500 Geflohene Unterschlupf finden, ist dieses eigentlich nur für rund 1800 Menschen vorgesehen. Die österreichischen Bundesländer, die auf Basis der 2004 in Kraft getretenen Bund-Länder-Vereinbarung über das Bereitstellen von Unterstützungsleistungen für Asylwerber dazu verpflichtet wären, ausreichend Plätze für die Geflohenen zu schaffen, weigern sich weiterhin vehement, die gesetzlichen Richtlinien einzuhalten. Einzig die Bundesländer Wien und Niederösterreich erfüllen die Quoten bezüglich der Aufnahme von Asylwerbern – letzteres lediglich aufgrund des überfüllten Lagers in Traiskirchen. Einig ist man sich lediglich in einer Sache: die Flüchtlinge ihrem selbst gewählten Schicksal überlassen zu wollen.
Der Hass auf die Geflohenen, das Ressentiment gegen den Asylwerber, erscheint in Österreich stets als eine Art gesellschaftliches Scharnier, welches über Parteigrenzen hinweg als gemeinsamer Nenner fungiert. Während die Wiener FPÖ vor zwei Jahren die Zwangsernährung hungerstreikender Flüchtlinge inklusive der Abschiebung in pakistanische Krisengebiete empfahl[2], drohte der ehemalige SPÖ-Gemeinderat Alois Lackner jugendlichen Afghanen, die in Bad Ischl ein Angebot des Don-Bosco Flüchtlingswerks nutzen wollten, »einen Sarg vor die Türe zu stellen, sollten sie in den Ort kommen.«[3] Während mittlerweile auch aus Reihen grüner PolitikerInnen Stimmen zu hören sind, welche Abschiebungen in pakistanische Krisengebiete goutieren[4] fühlt man sich in den Reihen der Sozialdemokratie regelrecht sicher, in der FPÖ einen vernünftigen Partner im Umgang mit Flüchtlingen gefunden zu haben.
Einer, der sich seit jeher als Vermittler zwischen Sozialdemokratie und »drittem Lager« hervortut, ist der frühere Verteidigungsminister und SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos. Dieser ist nun seit wenigen Wochen Soziallandesrat der burgenländischen rot-blauen Landesregierung und somit für den Bereich Asyl und Integration zuständig. Darabos war bereits 2013 mit ähnlichen Aussagen aufgefallen, als die Proteste rund um die Votivkirche noch in vollem Gange waren und er sich für die Abschiebung der dort protestierenden Asylwerber stark machte. Selbst die zuvor verlautbarten Reisewarnungen des hiesigen Außenministeriums vor dem Swat-Tal – das pakistanische Grenzgebiet, in welches die Protestierenden abgeschoben werden sollten und in welchem sich einst der Al-Qaida-Anführer Osama Bin Laden zu verschanzen wusste – als Argument gegen die Abschiebung anzuführen, kanzelte er als »unseriös« ab.[5]
Darabos’ frisch gebackener freiheitlicher Amtskollege, »Sicherheitslandrat« Johann Tschürtz forderte jüngst »Ausgangssperren für Flüchtlinge«, da diese eine existenzielle Bedrohung für die weibliche Bevölkerung Burgenlands darstellten.[6] Auch ihm attestierte Darabos erst kürzlich einen »pragmatischen Zugang zu diesem Thema« und verlautbarte, dass es beim Thema Asyl »keinen Konflikt mit der FPÖ« gäbe.[7]
Während syrische und irakische Flüchtlinge, die entweder den Barrel-Bombs des Assad-Regimes oder dem barbarischen Terror des Islamischen Staates entfliehen konnten, auf der Wiese des Flüchtlings-lagers Traiskirchen auszuharren gezwungen sind und ihre Zelte aufgrund des andauernden Regens regelmäßig unter Wasser stehen, steigt der österreichische Hass auf die offensichtlich Schutzlosen. Dies zeigt sich nicht nur in der Zunahme von politischen Gewalttaten gegenüber Flüchtlingen: Auch und vor allem in der virtuellen Welt fühlen sich immer mehr Menschen genötigt, zu Gewaltexzessen gegen Flüchtlinge aufzurufen und ihren Wahnvorstellungen freien Lauf zu lassen. Diese Zusammenrottungen des Hasses auf die »Minderwertigen« kulminieren nicht selten in der Gründung von extralegalen Gruppierungen, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben, die ländliche Umgebung nach potentiellen »Ausländern« abzugrasen.[8] All dies fungiert unter einem politischen Schlagwort, welches sich seit kurzem enormer Beliebtheit erfreuen darf: Gemeint ist die sogenannte »Asylkritik«.
Die strukturelle Beschaffenheit dieses Ressentiments erinnert an Altbekanntes aus anderen politischen Diskursen. Der durchaus gesamtgesellschaftlich zu verortende, stets formelhaft vorgetragene Satz, man dürfe zur »Asylfrage« nichts »Kritisches« mehr sagen, dient hier als Deflektor: Indem der Satz vom Kritik-Verdikt eingeführt wird, also behauptet wird, man werde aufgrund seiner persönlichen »Ansichten« zu diesem Thema politisch verfolgt, soll die Diskussion vom Wie zum Ob verlagert werden. Die Frage, ob die vorgetragene »Kritik« inhaltlich zutreffend sei, wird aus der Gleichung gestrichen, indem gesetzt wird: »Asylkritik« ist gleich »Asylkritik«.[9] Noch nicht einmal die Inszenierung als tabubrechender Furchtloser ist eine Eigenheit der »Asylkritik«: Sie ähnelt nicht etwa zufällig einem anderen Ressentiment, welches sich in Österreich ebenfalls stets einer parteiübergreifenden Einigkeit erfreuen durfte: dem Ressentiment der »Israelkritik«.
Während im Hass auf den minderwertigen Geflohenen die österreichische Politiklandschaft weitestgehend geeint voranschreitet und der Asylwerber als kollektiv unproduktiver Schmarotzer imaginiert wird, erweist sich auch der Antisemitismus gesamtgesellschaftlicher Beliebtheit, wie sich am bisher deutlichsten im Zuge der einstimmigen Verabschiedung der antiisraelischen Resolution durch den Wiener Gemeinderat anlässlich der sogenannten Gaza-Hilfs-Flottille gezeigt hat. In beiden Fällen zieht der, der »auffällt ohne Schutz«[10] die entladene Wut auf sich und eint die ansonsten zerstrittenen politischen Lager. Bereits der verstorbene Publizist Eike Geisel machte auf die Ähnlichkeiten beider Ressentiments aufmerksam, als er 1993 in Bezug auf den linken Antisemitismus schrieb:
»Wer die moralische Tarnung des (...) Antisemitismus durchbricht, gilt als Aggressor, wer die davon ausgehende Bedrohung benennt, als bedrohlich, wer den Gestank moniert, als Stänkerer. Und man selber versteht sich als mutiger Tabubrecher, als ehrbarer Wahrer der Meinungsfreiheit, die von Kritikern mit dem Vorwurf des Antisemitismus erstickt zu werden drohe. Mit demselben Gespür, mit dem Politiker das Asylrecht gegen dessen »Mißbrauch durch Scheinasylanten« verteidigen, wirft man sich als Vorkämpfer für ein Grundrecht in die Bresche.«[11]
Kein Zufall ist es zugleich, dass die Rechte der Flüchtlinge in der deutschen Linkspartei etwa genau dann zu einem schützenswerten Gut erklärt werden, wenn diese als argumentatorische Waffe gegen den israelischen Staat vorgetragen werden können:
So möchte man zwar einerseits den ehrlichen, deutschen Arbeiter vor dem Zuzug billiger »Fremdarbeiter« in Schutz nehmen[12], doch wähnt man sich in einer humanistischen Position, wenn man die sogenannte »Apartheid-Mauer« als Produkt einer rassistischen Immigrationspolitik imaginiert und nicht etwa als Verhinderungsmaßnahme gegenüber terroristischen Aktivitäten begreift.[13]
Diese antisemitische Projektion dient vor allem der Entlastung des eigenen europäischen Gewissens. Während an den europäischen Außengrenzen tagtäglich hunderte Menschen beim Versuch diese zu überwinden in das Meer getrieben werden, spricht man anlässlich Gazas mit großer Vorliebe von einem »Genozid«: An Israel wird das verdrängt, was dem europäischen Gewissen unangenehm ist.
Das scheint auch Norbert Darabos umgetrieben haben, als er im Mai 2012 den israelischen Außenminister Avigdor Lieberman als »unerträglich« bezeichnete und ihm gleichzeitig attestierte, einen »Flächenbrand« auslösen zu wollen.[14] Der tatsächliche »Flächenbrand«, der seit 2011 im Nahen Osten wütet und der von österreichischer Seite mitgetragene institutionalisierte Mord an den europäischen Außengrenzen werden die Flüchtlingsströme jedenfalls nicht zu einem jähen Ende bringen. Besonders nicht, wenn sich das offizielle Österreich weiterhin gegen langfristige Lösungen zur Bewältigung der Flüchtlingsströme stellt und sich weigert, auf die tatsächlichen Ursachen von Flucht und Immigration zu reflektieren. Gründe, derer man sich schon lange bewusst hätte werden können: Etwa als die Proteste im Zuge des Arabischen Frühlings begannen und Hunderttausende Menschen für einen anderen Nahen Osten auf die Straße gingen. Dass etwa Irak und Syrien heute als »failed states« gelten und die Menschen aus gutem Grund in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen, sollte auch als Konsequenz der verfehlten Politik der Europäischen Union begriffen werden.
Weder das Einknicken gegenüber dem Hass auf die Geflohenen, noch das Appeasement gegenüber den Kräften, die den Nahen Osten zu einem Ort der Unfreiheit und des Terrors gemacht haben, wird zu einer vernünftigen Lösung der aktuellen Situation führen.
Das Angebot, welches die momentane österreichische Asylpolitik bisher für Geflohene hat, ist lediglich eines der Zwangskasernierung, der Folter und der Hetze.
* Name geändert
[1] https://wientv.org/die-besorgten-buergerinnen
[2] http://www.heute.at/news/politik/art23660,840956
[3] http://www.nachrichten.at/oberoesterreich/salzkammergut/Ex-SP-Gemeinderat-droht-Fluechtlingen-Sarg-vor-die-Tuer-zu-stellen;art71,1070789
[4] Beispielsweise Eva Glawischnig die zuletzt Abschiebungen von pakistanischen Asylwerbern in die Terror-Provinz Khyber Pakhtunkhwa als »rechtmäßig« befürwortete. Siehe: http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/1439776/Abschiebung_Grune-Kritik-an-Eva-Glawischnig
[5] http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/565355_SP-steht-zur-Abschiebung-der-Fluechtlinge.html
[6] http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/4789581/Belaestigung-durch-Asylwerber_Tschurtz-fur-mehr-Haerte
[7] http://kurier.at/politik/inland/darabos-im-kurier-interview-bei-asyl-wird-es-mit-der-fpoe-keinen-konflikt-geben/144.335.231#.VbsZ4qaI4jU.facebook
[8] Zur Popularität deutscher »Bürgerwehren«, vgl: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/hetze-gegen-auslaender-im-internet-nennt-sie-terroristen-a-1045831.html
[9] Vgl. hierzu Felix Bartels’ Ausführungen über Bedürfnis und Argumentationsstruktur der »Israelkritik«: http://www.neues-deutschland.de/artikel/980453.don-t-look-so-alliiert-at-me.html
[10] »Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt.« In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 5. Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 21.
[11] Geisel, Eike. Der hilflose Antisemitismus. Zitiert nach: http://www.trend.infopartisan.net/trd0302/t100302.html
[12] So der damalige Linkspartei-Funktionär Oskar Lafontaine anlässlich einer Wahlkampfveranstaltung der DIE LINKE in Chemnitz 2005. Siehe: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/dokumentation-lafontaines-vorher-nachher-show-a-497814-3.html
[13] So etwa Annette Groth in einem Beitrag in der jungen welt vom 19.02.2013. https://www.jungewelt.de/2013/02-19/018.php
[14] http://www.welt.de/politik/ausland/article106343890/Israels-Aussenminister-Lieberman-ist-unertraeglich.html
Flüchtlinge wurden in Österreich nicht immer mit Softguns beschossen. (Foto: Lizenz CC BY-SA 3.0)