Which Side Are You On? (Teil 1)

Berthold Seliger zeigt Momentaufnahmen im Verhältnis von Folk, Song und Politik.

Vor fünfzig Jahren fand in Montgomery, Alabama, eines der würdevollsten Konzerte des letzten Jahrhunderts statt. Aktivisten der amerikanischen Civil-Rights-Bewegung hatten einen Marsch für das Wahlrecht von afroamerikanischen BürgerInnen über die Edmund Pettus Bridge von Selma nach Montgomery organisiert, der von den weißen Polizisten brutal niedergeknüppelt wurde und als »Bloody Sunday« weltweit in die Schlagzeilen geriet. Am Dienstag darauf wurde ein weiterer Marsch über die Brücke von Martin Luther King angeführt, diesmal waren aus den 600 Aktivisten des ersten Marsches 2500 geworden. Einige der Aktivisten wurden von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern angegriffen, ein Demonstrant erlag seinen Verletzungen. Harry Belafonte, der Bürgerrechtsbewegung eng verbunden, organisierte ein »Stars for Freedom«-Konzert am Abend vor dem nächsten Marsch über die Brücke, und so traten auf einem kleinen Holzpodest – in Ermangelung einer Bühne wurden aus einem nahegelegenen Bestattungsinstitut Dutzende von Särgen herbeigeschafft – vor den Toren der Hauptstadt des Staates Mississippi neben Belafonte Stars wie Tony Bennett, Sammy Davis Jr., Nina Simone, Joan Baez, Marlon Brando, Paul Newman oder Peter, Paul and Mary auf, um Solidarität mit ihren für ihre Grundrechte kämpfenden MitbürgerInnen zu beweisen, und am nächsten Tag zogen sie zusammen mit mehr als 25 000 Demonstranten über die Brücke. Wenige Wochen später, am 4. April 1965, fand im New Yorker Majestic Theatre eine große Solidaritäts-Gala unter dem Titel »Broadway answers Selma!« statt, bei der unter anderem Stars wie Barbra Streisand, Walter Matthau, Eli Wallach, Carol Burnett oder Victor Borge auftraten; Sammy Davis Jr. führte durch den Abend. Das Lebensmotto von Harry Belafonte wurde in den 60er Jahren offensichtlich von vielen Musikern und Schauspielern geteilt: »Ich war kein Künstler, der Aktivist geworden war. Ich war ein Aktivist, der Künstler geworden war. Ich war von dem Bedürfnis getrieben, mich gegen jede Ungerechtigkeit auf jede mir mögliche Weise aufzulehnen.«
Immer wieder wurden von den Zehntausenden Demonstranten, die damit rechnen mußten, erneut vom Ku-Klux-Klan angegriffen oder von Polizisten niedergeknüppelt zu werden, Folksongs angestimmt – um sich Mut zu machen, um ihren Gefühlen und ihrem Protest, ihrer Trauer und ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen; »während aller Ereignisse dieser Tage in Selma war Musik ein essentielles Element, Musik (...) mit der Kraft, die Intelligenz anzuregen und den Spirit darzustellen«, wie der Zeitzeuge Carl Benkert schreibt, der einige der von den Demonstranten angestimmten Songs aufzeichnete und davon ein Dokumentaralbum veröffentlichte.
Einer der Songs, der beim Demonstrationszug über die Edmund Pettus Bridge immer wieder angestimmt wurde, ist der Song, auf den man die amerikanische Folkbewegung und das politische oder doch zumindest das engagierte Lied zurückverfolgen kann: »Which Side Are You On?«, das 1931 von Florence Reece, der Frau eines Gewerkschafters in Harlan County, Kentucky, geschrieben wurde. Die Bergleute und Minenarbeiter befanden sich in einem verzweifelten Kampf gegen die Minenbesitzer, der als Harlan County War in die Geschichte einging. Sheriff Blair und seine Leute, vom Bergbauunternehmen angeheuert, also auf der Seite der Besitzenden, stürmten das Haus der Familie Reece auf der Suche nach dem Gewerkschafter, der aber gewarnt worden war und sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Florence Reece und ihre Kinder wurden vom Sheriff und seiner Bande in ihrem eigenen Haus terrorisiert. Nachdem die Männer abgezogen waren, schrieb Florence Reece, so geht die Legende, den Text Which Side Are You On? auf die Melodie der traditionellen Baptistenhymne Lay the Lily Low, die auch die Melodie der Ballade Jack Munro war (ein Song, der nicht nur von Bob Dylan oder Joan Baez, sondern als Jack-A-Roe auch von den Grateful Dead aufgeführt wurde). Einer der wichtigsten und einflußreichsten Songs der Geschichte war entstanden, ein Song, der die Kämpfe der Arbeiter, der Unterdrückten, der Bürgerrechtsbewegung über Jahrzehnte begleitete, gemeinsam mit We Shall Overcome ein Symbol für die Friedensbewegungen der 1960er und 1980er Jahre wurde und bis heute auf Streikpostenketten und in anderen politischen Kämpfen gesungen wird.
        
Which side are you on boys?
Which side are you on?

Und in der Tat ist diese einfache Frage ja eine der entscheidenden Fragen überhaupt, im Leben allgemein und in einem konkreten politischen Kampf. Auf welcher Seite stehst du? Auf der Seite der Streikbrecher und der Ausbeuter, oder auf der Seite der Arbeiter, die für ihre Rechte kämpfen? Stehst du oben, oder stehst du unten?
1967 hat Hartmut König eine deutsche Version für den Oktoberclub getextet und komponiert – das wohl bekannteste Agitationslied der Singebewegung der DDR.

Sag mir, wo du stehst,
und welchen Weg du gehst.
Zurück oder Vorwärts, du musst dich entschließen.

1995 gab die Gruppe »Corazon« (spanisch für »Herz«) im Kulturarbeiterverlag eine CD namens Scheißautoreferentialität heraus, die mir eine der liebsten in meinem Archiv ist – vier Songs nur, in feinem Cover, das in Farbe und Gestaltung an die »Wissenschafts«-Reihe der edition suhrkamp erinnert. Das erste Lied dieser Platte ist eine aktuelle Version von »Sag mir, wo du stehst«, und natürlich kann man im Jahr 1995 nicht mehr so tun, als ob es 1967 ist. Die Band ist, wie sie sagte, »nicht am Ei(ge)nen, sondern am Anderen interessiert«. Es geht darum, »vier Jahrzehnte gesellschaftlicher Wirklichkeit zwischen Stammheim und Mauerfall zur Disposition zu stellen«, wie es seinerzeit in einer Rezension hieß. Es ging um die Frage, wie Gesellschaft in der irgendwie »Poplinken« diskutiert werden kann. In gewisser Weise ist die Corazon-Version des Liedes eine kritische und kommentierte Ausgabe des Originals. Aber natürlich: »Denken macht schön«! Und hier haben wir sie, die linke Tanzmusik, den revolutionären Tanzboden oder doch zumindest einen rebellischen Dancefloor.

Which Side Are You On? wurde einer der wichtigsten Songs der US-Folk-Bewegung, auf zig Demonstrationen und Sit-Ins gesungen von Woody Guthrie, von Pete Seeger oder von Billy Bragg. Bob Dylan zitierte den Songs in seinem mysteriös-entropisch mäandernden Song Desolation Row, in der vorletzten Strophe legt er den Passagieren der Titanic diese Songzeilen in den Mund. Ich bin kein Dylanologe, aber mir scheint die Interpretation gerade im politischen Kontext des Entstehungsjahres 1965 naheliegend, daß die Titanic untergeht, wenn die Passagiere (also das surreale »Welt-Theater« dieses Songs, also »die Welt«...) nicht realisieren, daß sie sich in ihrem Handeln für die richtige Seite entscheiden müssen.
Natalie Merchant hat 2003 eine dunkle, melancholische Version des Songs aufgenommen. Vor allem aber sind die Kompositionen von Frederic Rzewski und Christian Wolff hervorzuheben. Wolff hat den Song in seinem 1974 entstandenen String Quartet Exercises Out of Songs #3 verarbeitet, Rzewski hat ihn zu einem seiner vier North American Ballads für Klavier gemacht, die 1979-1980 entstanden sind. Der Pianist Paul Jacobs hatte die North American Ballads in Auftrag gegeben mit der Aufforderung, sie sollten »zugänglich und erkennbar amerikanisch« sein. Rzewski verstand diesen Arbeitsauftrag politisch und suchte vier Songs aus, die als Arbeiter- und Protestlieder für die Geschichte der USA von Bedeutung waren. Für Rzewski ist Musikmachen und insbesondere das Improvisieren ein explizit politischer Akt.
Rzewski schreibt über seine Begegnung mit Pete Seeger, der ihn stark beeinflußte: »Als ich in den frühen siebziger Jahren in New York lebte, lernte ich Pete Seeger kennen, der zu meinen großen Vorbildern gehörte.« Rzewski fragte Seeger um Rat, da eine Gruppe von Musikern ein »M.A.C.« (Musicians’ Action Collective) gebildet hatte, andere waren an der Idee eines »songwriter’s collective« interessiert. Seeger gab den Rat, sich regelmäßig zu treffen und die Lieder zu singen, die in den letzten Wochen geschrieben wurden. »Außerdem, sagte er, solltet ihr Bachs Beispiel folgen. Dabei bezog er sich auf die von Bach häufig verwendeten Melodien oder ‚Choräle’, die von jedermann gesungen werden können. Seeger hielt die Beteiligung des Publikums an einem Konzert für unerläßlich.« (Rzewski, Program Notes)
Dieser Aspekt der Beteiligung ist insofern spannend, da bereits Jean-Jacques Rousseau in seinem Brief an d’Alembert über das Schauspiel (wir schreiben das Jahr 1758) am Theater seiner Zeit die »sich abschließenden Schauspiele« kritisiert, bei denen »eine kleine Anzahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend«. Rousseau kritisiert also Trennung (die Schauspieler oben auf der Bühne, das Publikum unten) und Passivität als die »antisozialen Züge der repräsentativen Bühne« (Rancière), und er stellt dieser Veranstaltung passiven Konsums, wie wir heute sagen würden, ausdrücklich das Fest entgegen, an dem alle teilnehmen, bei dem alle Schauspieler werden und die Emotionen einander mitteilen. Rousseau fordert ein Miteinander im Geist der Gleichheit, das gemeinsame Feiern eines großen Festes und gemeinsamer Emotionen.

In den 1960er und 70er Jahren war Folk weltweit ein Instrument des politischen Kampfes. Vor allem in den USA, wo aufgrund des Wahlrechts bis heute nur die Wahl zwischen Mitte-Rechts und Rechts-Regierungen besteht, bediente sich die außerparlamentarische Bewegung des Folk, um politische Veränderungen herbeizuführen, und die Singer/Songwriter begriffen sich explizit politisch, ob an der Seite der Bürgerrechtsbewegung im Kampf gegen Rassismus, ob bei Streiks oder in der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, ob explizit oder eher unterschwellig: Folksongs waren Teil des Untergrunds, der Subkultur, des Kampfes für eine andere Welt. Auf Woody Guthries Gitarre stand seit 1941 „This Machine Kills Fascists“ – Folksongs wurden von den Künstlern als Waffe betrachtet. Und Folksongs waren auch ein Mittel der Kommunikation, denn nicht nur die Folksänger, die Mitglied der Kommunistischen Partei der USA waren wie Pete Seeger und entsprechend vor dem berüchtigten Ausschuß für unamerikanische Tätigkeiten landeten, sondern auch all die anderen, die in ihren Songs Mißstände offen ansprachen und die Verhältnisse nicht nur kritisierten, sondern auch ändern wollten, gab es in den bürgerlichen Medien keine Möglichkeit, ihre Gedanken, ihre Songs vorzutragen. Also griff man zu Methoden des Agit-Prop, der Gegenkultur, und verbreitete seine Haltung auf Demonstrationen, Sit-Ins oder vor den Werktoren. Nicht viel anders waren schon die Klampfenlieder von Brecht/Eisler in den 20er und 30er Jahren gedacht, nicht anders agierten und agitierten Alfredo Bandelli als Teil der außerparlamentarischen italienischen Lotta Continua-Bewegung oder der sizilianische Geschichten-Sänger und Lieder-Erzähler Cicciu Busacca, der mit seinen Songs über Land zog und Nachrichten von politischen Kämpfen verbreitete. Und so verstand sich auch der Liedermacher Walter Mossmann, der in Zeiten, da es nicht einmal einen Zusammenschluß der Anti-Atomkraft-Bürgerinitiativen gab (geschweige denn Medien der Gegenöffentlichkeit oder gar das Internet), landauf landab von den Ereignissen in Wyhl und dem erfolgreichen Widerstand gegen den Bau des AKW berichtete. Mossmann trat in Jugendzentren, bei Volkshochschulen und auf Festivals auf und bei den Demonstrationen in Wien gegen das dortige AKW Zwentendorf oder in Gorleben 1977. Mossmanns Flugblattlieder mischen sich auf vielfältigste Weise ein: Es geht gegen Berufsverbote, gegen die Entlassung eines Betriebsrats, um das Abtreibungsgesetz, um die Katastrophe in der Chemiefabrik von Seveso, um internationale Solidarität etwa mit Chile und Nicaragua und um den Nazi-Richter und späteren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger. Lieder, die einen markanten Gebrauchswert für die politische Bewegung haben. Und man wird darauf hinweisen dürfen, daß Mossmanns Flugblattlieder vom staatlichen Rundfunk und Fernsehen der BRD nicht gespielt, vulgo: zensiert wurden. Liedzeilen wie „Bei uns wird das Recht mit Gesetzen zertreten“ (in Ihre Gewalt und die unsere) hielt die Demokratie eben nicht aus.

Diese Form der Übermittlung politischer Botschaften ist heute auf den Rap beschränkt, man denke an Kendrick Lamar, der die afroamerikanische Realität in einem Staat thematisiert, der immer noch vom Rassismus geprägt ist und in dem junge Schwarze von Polizisten wegen ihrer Hautfarbe umgebracht werden, oder an Rapper im Senegal, die in Versform über Neuigkeiten auf YouTube oder im TV berichten: „Journal Rappé“ nennen sie ihr Magazin – politisch engagierter Rap.

Die Folkmusik unserer Tage dagegen ist mit Ausnahmen, die wie immer die Regel bestätigen, zu einer unpolitischen Kuschelmusik degeneriert, deren Protagonisten neben ein paar Likes auf Facebook hauptsächlich Plattenverträge bei multinationalen Konzernen wie Universal oder Warner im Sinn haben und Sponsoring-Deals mit Limonadenherstellern oder Telefonbuchverlagen. Sogar „Singer/Songwriter“ ist heute zu einem musikalischen Genre verkommen, in dem es um Lieder geht, die soft klingen und wenig wollen – so wird von der Folkmusik und den Songs unserer Tage eher Weltzustimmung organisiert denn Aufmüpfigkeit, gar Rebellion. Wie konnte dies passieren? Wie konnte aus einem musikalischen Genre, das Widerstand verkörperte und organisierte, innerhalb weniger Jahrzehnte eine Schublade werden, in der die multinationalen Plattenfirmen harmlose Schmusemusik verkaufen können?

Natürlich gelangt jede noch so vage dissidente Minderheitenkultur binnen kürzester Zeit als Mode in die Verwertungslogik der Kulturindustrie – ich habe seit den späten 80er Jahren etliche „New Folk“-, „Anti Folk“-, „Indie-Folk“, „Neo-Folk“- oder „Folk Revival“-Kampagnen erlebt. Doch nicht nur die Kulturindustrie ist Schuld. Wir erleben seit geraumer Zeit eine massive Entpolitisierung der Musik. Selbst die letzten nichtkapitalistischen Nischen, die letzten Freiräume verschwinden heutzutage, befeuert durch „die Krise“. Auch die Subkultur ist der Verwertungslogik des Kapitals längst unterworfen, wozu einige ihrer Protagonisten sehr aktiv beigetragen haben, indem sie den Ausverkauf willenlos vorantrieben. Der unlängst verstorbene große spanische Schriftsteller Rafael Chirbes sagte: „Um einen Roman zu schreiben, muß man sich zuvor einen Standpunkt erarbeitet haben.“ Was zweifelsohne auch für die Musik gilt, also: Um Musik zu machen, muß man sich zuvor einen Standpunkt erarbeitet haben, muß man eine Haltung zeigen. Doch genau dies ist im modern talking der Kulturproduktion unserer Tage nicht mehr vorgesehen. Wenn Großkünstler wie Noel Gallagher („Musik und Politik gehören nicht zusammen. Insbesondere Rock’n’ Roll ist purer Eskapismus. In ein Rockkonzert gehören Songs über die Freuden des Saufens und wie man seine Traumfrau aufreißt. Alles andere ist ein verdammtes Mißverständnis.“) oder Sven Regener („Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Politik und Kunst. Wir sind nicht der verlängerte Arm der Volkshochschulen. Politik ist nicht die Basis, das ist falsch verstandener Marxismus. Wenn Sie Experimente wollen, sollten sie ins Chemielabor gehen.“), aber auch die vom Verband der deutschen Indies, VUT, mit der „Goldenen Indie-Axt“ ausgezeichnete Gudrun Gut („Politisch motivierte Musik finde ich inzwischen total zum Kotzen. Ich möchte mich lieber gar nicht politisch äußern und als Wattebausch wahrgenommen werden.“) einer Politikferne der Popmusik das Wort reden und sie ihrer gesellschaftlichen Relevanz berauben, dann betreiben sie das Geschäft derer, die die Musik in eine Ware verwandeln und die Musikliebhaber zu Konsumenten degradieren wollen. Solche Musiker, die sich der Gesellschaftlichkeit ihres Tuns verweigern, zementieren die Machtlosigkeit, die Wirkohnmächtigkeit der Musik, die immer mehr der Akkumulation von Reichtum und dem Distinktionsgewinn dient und darüber hinaus keine gesellschaftliche Aufgabe mehr erfüllt.

Der bereits erwähnte Komponist Rzewski analysiert: „Die meisten Menschen geben ihre Träume, ihre schöpferischen Visionen, ihre innigsten Wünsche auf und passen sich stattdessen an die rauhen (aber nicht unerträglichen) Bedingungen an, die ihnen von einer repressiven Gesellschaftsordnung auferlegt werden, denn letztlich scheint das der sicherste Überlebensweg zu sein.“ Diese Anpassung ist im Kulturbetrieb unserer Tage auf allen Ebenen zu konstatieren: Bei den Musikern und Künstlern, bei den Kulturvermittlern, den Kulturmanagern, einfach bei allen, die in den Hypeberufen der Kreativindustrie tätig sind. „Kreativ zu sein und eigenverantwortlich zu handeln ist heute nicht mehr subversiv, sondern gehört zu den von Arbeitgebern geforderten Tugenden. Diese Attribute sind auf die Seite des Kapitalismus gewandert“, erklärt die Soziologin Cornelia Koppetsch. Kreativität ist längst vom kapitalistischen Mainstream vereinnahmt worden. Die Künstlerideologie geht Hand in Hand mit dem Neoliberalismus, das ergänzt sich perfekt. Schon Marx wußte, als er vom Lumpenproletariat sprach, also von jener „unbestimmten, aufgelösten, hin- und hergeworfenen Masse, die die Franzosen ‚la bohéme’ nennen“, daß dieses Milieu ein sehr geringes Bewußtsein von der eigenen Interessenlage, generell ein schwach ausgebildetes gesellschaftliches Bewußtsein hatte, mithin eine Art „Mobilgarde“ der Reaktion darstellte. Wir merken: Karl Marx spricht hellsichtig von den Akteuren der Popkultur unserer Zeit und ihrem kaum vorhandenen Klassenbewußtsein, ja, von ihrer kaum vorhandenen Haltung überhaupt. Wenn eine von den bürgerlichen Feuilletons gefeierte Band wie Tocotronic ausgerechnet am 1.Mai, also dem traditionellen Kampftag der Arbeiterklasse, ein „rotes Album“ veröffentlicht („Rot für die Liebe, rot für die Revolution“ heißt es auf der Website der Band), dann ist darauf nur langweiliger Schlagerpop zu hören fernab aller Subversion, und ein „Rebel Boy“ bastelt an einem Oldtimer-Porsche herum, mit dem er dann über Land fährt: „Ich erwarte eine Zeit der Zärtlichkeit / Ich will keine Punkte sammeln / Gib mir ein neues Leben (...) Flucht und Himmelfahrten / Sind uns’re Koordinaten / Check dich mit mir ein / Kannst du mich befrein? / Rebel Boy Rebel Boy / Ich balle meine Faust / Für die Geschwindigkeit / Wenn ich noch schneller bin / Geht alles schneller vorbei (...) Rebel Boy, ich bin wie du / Den man mit Schmach bedeckt / Rebel Girl, die wie zum Trotz / Den Kopf noch höher reckt“. Banale Zeilen in banalen Zeiten.

Die Agonie unserer Zeit, unserer Gesellschaft, „der Politik“, ist auch die Agonie der Popmusik unserer Tage. Es ist wie in Wallensteins Lager: während draußen die Welt zusammenstürzt, während Flüchtlinge an der Außengrenze Europas und auf den Schleuserrouten, die zu nutzen sie wegen der Abschottungspolitik des reichen, den „abendländischen“ Werten vermeintlich verpflichteten Europas zu nutzen gezwungen sind, zu Tausenden sterben, während der Süden unter Führung des deutschen Zuchtmeisters und der Knute der Austeritätspolitik diszipliniert und ausgenommen wird, und während der Finanzkapitalismus und die ihn stützenden bürokratischen Institutionen die Souveränität der demokratischen Gesellschaften und der Menschen beerdigen; während also um uns alles tost und brodelt, sitzen wir bräsig im Zeltlager wie Wallenstein und zögern und zaudern, und unsere Popmusiker trällern lustige und unbedarfte Liedchen, die nichts bedeuten. Und alle halten wir diese Agonie und das Kreißen unserer Egos für einen wünschenswerten und alternativlosen, idealen Zustand, oder doch zumindest für einen, den ändern zu wollen wir aufgegeben haben.

Um zum Beginn dieses Aufsatzes zurückzukehren: Was vor fünfzig Jahren das Solidaritätskonzert der Weltstars in Selma war, könnte heute ein Solidaritätskonzert des europäischen Popadels sein für die Flüchtlinge in Lampedusa, auf der Insel Kos oder an den Mauern und Stacheldrahtzäunen, die die Festung Europa in Bulgarien oder Mazedonien gebaut hat. Es fällt auf, daß es die alten Rockisten wie Grönemeyer, Lindenberg und Maffay sind, die angesichts der Fremdenfeindlichkeit im Deutschland des Jahres 2015 einen ersten Schritt gehen und ein Solidaritätskonzert für Flüchtlinge in Berlin organisieren. Die alten Herren wissen, was die jüngeren vergessen zu haben scheinen: Die Musiker, die Kreativen müssen sich wieder ihrer gesellschaftlichen Bedeutung klar werden. Wir alle müssen uns von den Zumutungen des neoliberalen Finanzkapitalismus unserer Tage und dem Verzicht auf jede Perspektive der Veränderung der Welt lösen. Wir müssen wieder ein Bewußtsein entwickeln, daß wir als Subjekt an der Welt teilnehmen, das Ereignisse initiieren und sich dem Mainstream der herrschenden Zumutungen widersetzen kann. Nein: sich widersetzen muß.

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