Von den Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums (1)
Eine »kritische Gebrauchsanleitung zum System Raiffeisen« legen Lutz Holzinger und Clemens Staudinger mit dem Schwarzbuch Raiffeisen vor. Unter dem Titel Der Stille Riese starteten die Autoren im Oktober 2010 in der »Boulevardzeitung« Augustin eine Serie über den Raiffeisen-Konzern. Dass daraus nun auch ein kompaktes Buch hervorgegangen ist, verdanken wir dem mandelbaum verlag, der mit der neuen Reihe kritik & utopie Raum für Entwürfe und kritische Reflexionen aus dem Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften geschaffen hat, die bereits mehr als 20 Bücher zählt.
Was kann man tun, um die Macht von Raiffeisen zu beschränken? lautet die Eingangsfrage und angesichts der überwältigenden Tatsachen könnte eine bescheidene Antwort sein, dass Informiertsein und Mitredenkönnen am Anfang aller Bemühungen um mehr Teilhabe stehen müssen.
Zum Informiertwerden trägt das Buch jedenfalls bei und eine Fülle an Material zusammen. Die »Märkte« und »Geschäfte«, hinter denen sich die Verantwortlichen gerne verstecken, tragen plötzlich Namen. Wer die Entscheidungen trifft und handelt, was für Funktionen gewisse Personen im Raiffeisen-Konzern innehaben und wie viele zugleich, erfährt die Leserin aus dem Buch und schon wird Einiges durchsichtiger, wo sonst der Nebel der Anonymität wabert. Mit 200.000 MitarbeiterInnen (2009) laut Eigendefinition der größte private Arbeitgeber der Republik, ist Raiffeisen über vielfältige Beteiligungen und Finanzierungen in fast allen Schlüsselbereichen der österreichischen Wirtschaft tätig (S. 70). Innerhalb eines Jahrhunderts wurde aus einer bäuerlichen Hilfskasse eines der mächtigsten und einflussreichsten Monopole Österreichs, ja – Europas.
Fast jede zweite ÖsterreicherIn sei KundIn (= Mitglied) bei einer der rund 550 Raiffeisenbanken. Lagerhausgenossenschaften kontrollieren zwei Drittel der Ernte von Getreide und anderen Feldfrüchten. Über verschiedene Tochterunternehmen beherrscht der Konzern die österreichische Zuckerwirtschaft zu 100% (Agrana) vom Saatgut bis zur Verarbeitung und damit die Preisgestaltung. Im Molkereibereich ist es ähnlich: Die Raiffeisenmolkereigruppe übernimmt 95 % der in Österreich angelieferten Milch und hält 99 % Marktanteil bei Frischmilch, 95% bei Butter, 85 % bei Schnittkäse (S. 85) und im Mühlensektor ist der Konzern die Nummer Vier in Europa (S. 82). Das Netzwerk selbständiger lokaler Raiffeisenbanken ist flächendeckend und daneben erleichtern die Raiffeisen Landesbanken in den Landeshauptstädten und die Raiffeisen Zentralbank RZB, kürzlich mit der Raiffeisen Bank International RBI fusioniert, kleine und größere Transaktionen.
Neben der Dominanz auf dem Geldsektor, im Warenhandel auf dem Land und bei der Verarbeitung von Agrarprodukten aller Art hält der Konzern große Anteile an weiteren wesentlichen Wirtschaftsfeldern: Lebensmittel (Efko bei Gemüse, Gourmet Fertigmenüs, Inzersdorfer, Maresi, Cerny beim Fisch, Landhof und Loidl bei Schinken und Wurstwaren, Salinen Österreich), Bau (Strabag u. a.), Versicherungen (Uniqua, NÖ und OÖ Versicherungen), Medien (Kurier, News-Gruppe mit »News«, »Profil«, »Format« und »Trend«, NÖN, SAT1, APA, »Krone Hit Radio« und einiges mehr), Dienstleistungen und Fremdenverkehr sowie Immobilien.
Wie kam es dazu?
Ausführlich geht das Schwarzbuch auf die historischen Wurzeln (»Bauernlegen«) ein. Der Namensgeber Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 – 1888), ein evangelischer preußischer Kreisbeamter und Bürgermeister, begann nach der Hungersnot von 1846 bäuerliche »Hülfsvereine« zu gründen. Industrialisierung und billigere Importe aus den Nachbarländern führten auch in Österreich nach 1870 zu einem Preisverfall und ruinierten jährlich tausende Höfe. 1886 wurde die erste Raiffeisenkasse nach preußischem Vorbild in Mühldorf bei Spitz gegründet. Das Prinzip Raiffeisen mit dem Leitspruch »Einer für alle, alle für einen« gewährte »Grüne Kredite« (das bedeutete, Saatgut und Dünger mit der späteren Ernte zu bezahlen) und erleichterte die gemeinsame Erntevermarktung. Da die von mindestens sieben (unbemittelten) Bauern gebildeten dörflichen Genossenschaften allerdings Geld für die Darlehen brauchten, dienten Spareinlagen wohlhabender Bürger und nieder verzinsliche Anleihen zur Kapitalbeschaffung.
Innerhalb eines Jahrhunderts scheint das Unternehmen – mit Unterbrechung zwischen 1938 bis 1945, da genossenschaftliche Selbstbestimmung nicht mit dem Nazi-Regime kompatibel war – permanent auf Erfolgskurs gefahren zu sein. Während die Anzahl der bäuerlichen Betriebe kontinuierlich zurückging, stieg die Anzahl der »Mitglieder« bis 1990 auf 2,1 Millionen. Zentralisation und Expansion und die damit verbundene Anpassung an das Profitprinzip (Einkaufen zu Minimalpreisen, Verkaufen zu Maximalpreisen) drängten jedoch den Einfluss der Bauern in den Genossenschaften immer weiter zurück. Die Monopolstellung von Raiffeisen auf dem Land und Abhängigkeiten (aufgrund von Krediten) erschweren es dennoch vielen bäuerlichen Betrieben, nach Alternativen zu suchen. Was wird nun dem Raiffeisenkonzern eigentlich vorgeworfen? Das Schwarzbuch führt zusammengefasst folgende Hauptkritikpunkte an:
1. Machtkonzentration und Machtakkumulation
Raiffeisen agiert in Deutschland, der Schweiz und Südtirol, nirgends jedoch herrscht eine ähnlich intensive personelle Verflechtung wie in Österreich: Die gesetzgebende und politikbestimmende Kraft der »Dreifaltigkeit« von Landwirtschaftskammern, ÖVP-Bauernbund und Raiffeisen ist einmalig (und wesentlich erfolgreicher als ihre Pendants aus der Arbeiterschaft: Konsumgenossenschaft, BAWAG, etc.)
2. Monopolbildung und Machtanwendung
Als Monopol kann Raiffeisen z. B. in der Produktion und beim Handel mit Grundnahrungsmitteln den Preis diktieren. Als einer der größten Anzeigenkunden kann der Konzern nicht nur auf die eigenen Medien Einfluss ausüben. Lobbying hat er gar nicht nötig. Wozu sitzen zahlreiche Funktionäre in wichtigen Gremien?
3. Ausnutzen von Notlagen und Vorteilen
Unter dem Vorwand, die Interessen der gesamten Bauernschaft zu vertreten, werden die Kleinen benutzt, um mehr staatliche Finanzierung herauszuholen, bei der Verteilung der Fördermittel allerdings benachteiligt (S. 55). Lediglich ein Fünftel der Subventionen geht an kleine Bauern, den Großteil streifen ohnehin Begünstigte ein (darunter Red-Bull-Mateschitz).
4 Beeinflussung der Gesetzgebung (z.B. Durchsetzung der Gruppenbesteuerung)
Die Raiffeisen-Landesbanken hätten 2006-2008 bei Gewinnen von 1,9 Milliarden exakt 1 Prozent Steuern gezahlt und der RLB-NÖ/Wien wurden bei einem Gewinn von 739 Mio. Euro sogar noch über 21,6 Millionen gutgeschrieben (S. 81).
5. Missachtung des eigenen »Code of Conduct«
Es ist eine große Enttäuschung, dass demokratische Ansprüche und der ehrenwerte Genossenschaftsgedanke so wenig eingelöst werden, dass die wesentlichen Entscheidungen dort getroffen werden (wie so oft), wo die Genossenschaftsmitglieder keinen Einfluss mehr haben (S. 139). Anstelle von Solidarität scheint als Leitprinzip Bauernschläue getreten zu sein.
Dem moralischen und ökologischen »Code« widerspricht auch die Beteiligung des Raiffeisenkonzerns am Goldabbau in Ghana. Dieser reduziert landwirtschaftliche Flächen, und für die lokale Bevölkerung bleibt bestenfalls gesundheitsgefährdende Taglöhnerarbeit. Angeblich ist die RBI mit einer Reihe von Töchtern an Spekulationen mit Nahrungsmitteln ebenso beteiligt wie an der Finanzierung von Unternehmen, die in Afrika »Land Grabbing« betreiben.
Dennoch erzählt das Schwarzbuch keine »Skandalgeschichte«. Die sensationsgeübte Leserin findet überall nur das unerquicklich Übliche (das darum nicht weniger empörend sein sollte). Können Genossenschaften nicht existieren, wenn sie im Sinn ihrer Mitglieder agieren? Haben sie nur eine Chance auf dem Markt, wenn sie selbst kapitalistisch werden? Allerdings – was ist Raiffeisen gegen Firmen, bei denen haarsträubendes Missmanagement und stümperhafte Geldtransaktionen den Verlust tausender Arbeitsplätze zur Folge haben und deren Schäden auch wieder die Mehrheit zahlen muss?
Die für das Schwarzbuch zusammengetragenen Fakten beeindrucken, die Analyse bleibt leider oberflächlich. Dass der Text mit anderer Absicht entstand und ursprünglich eine Zeitungsserie war, lässt sich leider auch an etlichen Wiederholungen und teilweise divergierenden Zahlenangaben erkennen. Gelegentlich biedert sich die Ausdrucksweise etwas zu sehr an die vermeintliche Leserschaft »von der Straße« an, das hätte es nicht gebraucht. Grafische Darstellungen an der einen oder anderen Stelle hätten der Veranschaulichung des komplexen Geflechts sicher gut getan.
Dank der Lektüre des Schwarzbuchs ist schließlich das Giebelkreuz auch für mich allgegenwärtig. Wollte ich »raiffeisenlos« leben, müsste ich auf viele Genüsse verzichten, denn der weitreichende Arm von Raiffeisen hat viele Finger: Mein Speiseplan enthielte weder Zucker noch Fruchtsaft, weder Milch noch Joghurt, Käse und andere Milchprodukte, Mehl-, Stärke- und Getreideprodukte wären ebenso gestrichen wie Autofahrten (mit Biosprit) oder die Kreditkarte und das Bankkonto bei einer der zahlreichen Raiffeisen-Filialen. Ich wäre nicht so gut versichert, könnte nicht bauen oder nur bestimmte Straßen benützen, weder mit der Westbahn noch mit dem Twin City Liner reisen und müsste auch das Lesen von Zeitschriften drastisch einschränken. Ja, nicht einmal das Automatenbuffet oder Konservendosen wären Alternativen, denn auch da ist Raiffeisen drin.
Gibt es ein Entrinnen? Zurück zur Eingangsfrage: Sie hätte besser gelautet: Was kann man tun, um den Reichtum von Raiffeisen gerecht zu verteilen und so der genossenschaftlichen Springquellen teilhaftig zu werden?
Schwarzbuch Raiffeisen
Lutz Holzinger / Clemens Staudinger
228 Seiten
ISBN: 978385476-622-3
16.90 Euro
mandelbaum verlag, Wien
[1] nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann … die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms. Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1895), Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd.19, S.13-32.