Die politische Differenz denken
Es ist wahrlich kein leichtes, daher jedoch umso wichtigeres Unterfangen, auf das sich Oliver Marchart, Professor am Soziologischen Seminar der Universität in Luzern, hier eingelassen hat. Geht es doch um nichts weniger als um eine kritische Einführung in jenes »postfundamentalistische« Denken, das sich seit Jahrzehnten der theoretischen Ausarbeitung der Differenz zwischen »der Politik« und »dem Politischen« widmet. Gerade weil diese Positionen im deutschsprachigen Raum nach wie vor quasi als Underground bzw. philosophische Subkultur des Politischen gehandelt werden, besteht die Leistung Marcharts vor allem auch darin, unterschiedlichste Positionen zusammen zu bringen. Und das verläuft alles andere als konfliktfrei. Wie sollte es auch sein, angesichts eher prodemokratischer Positionen (von Claude Leforts neomarxistisch-gramscianischem bis hin zu Jean-Luc Nancys eher anarchistischem Ansatz), antidemokratischer (exemplarisch Alain Badious Maoismus und Slavoj Zizeks Flirts mit dem Stalinismus) sowie ebenso neomarxistisch wie von Gramsci beeinflusster links-demokratischer Positionen (Ernesto Laclau).
Dabei mag es zuerst befremden, wenn hier linke Theorien bei Heidegger, bzw. im konkreten Falle beim »französischen Linksheideggerianismus« ihre Ausgangspunkte finden. Heidegger quasi von links zu nehmen mag angesichts seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus paradox erscheinen. Aber auch Nietzsche wurde bekanntlich schon in den 1930er Jahren von französischen Intellektuellen links gelesen (der »Übermensch« sozialistisch, kollektiv gedeutet, Ideen der Vielheiten anti-humanistisch weiterentfaltet). Diese Nietzsche-Lektüre war dann auch für viele (etwa für Foucault) der vorbereitende Einstieg in das Werk von Heidegger (mit »Sein und Zeit« von 1927 im Zentrum). Diese Spuren (und nicht die anti-modernen, technikfeindlichen des späteren Heidegger) finden wir nicht zuletzt auch bei Derrida, Deleuze und Lacan, für den Heideggers NS-Affinitäten nur ein weiterer Beweis dafür waren, dass große Denker nicht immer selbst auf der Höhe ihres eigenen Denkens anzutreffen sind.
Vor allem Heideggers Unterscheidung zwischen einem ontischen Sein und einem ontischen Seiendem (die »ontologische Differenz«) stellt hierbei jene Denkfigur dar, von der aus für Marchart im französischen Diskurs überhaupt erst ein Denken einer »politischen Differenz« zwischen den Bereichen »des Politischen« und »der Politik« möglich ist. Das »Postfundamentalistische« dieses Denkens (worunter für Marchart exemplarisch auch queere »postidentitäre soziale Bewegungen« fallen) besteht nun darin, nicht erneut in Letztbegründungen zu verfallen (wie es der Anti-Fundamentalismus gemeinsam mit dem Neofundamentalismus tut), sondern von stets umkämpften, nie endgültig hegemonialen Status erreichenden Terrains zu sprechen. Es verwundert daher auch nicht, dass neben Heidegger vor allem Gramsci mit seiner Theorie eines permanenten »Stellungskriegs« eine gewichtige Rolle spielt. Auch wenn es dabei nur zu minimalstem Landgewinn kommt, kann auch die (zahlenmäßig) kleinste Aktion etwas bewirken, indem sie, wie Marchart es formuliert »den Dominanzdiskursen immer Arbeit an ihrer eigenen Hegemonie«, machen (etwa wenn von eh »kindgerechter Schubhaft« oder der Gleichbehandlung von militanten TierschützerInnen und Neonazis die Rede ist).
Unter »Postfundamentalismus« versteht Marchart konkret Prozesse unabschließbarer Infragestellungen scheinbarer Letztbegründungen (Identität, Staat, Nation, Geschlecht, Gene). Jedoch geht es nicht um den postmodernen Allgemeinplatz, dass nix fix ist und anything goes. Die postfundamentalistische »Hypothese von der Abwesenheit eines letzten« jedoch »nicht eines jeden Grundes« behauptet nicht den Verlust jeglicher Fundamente (wie es der Anti-Fundamentalismus tut und wie Leforts »Auflösung der Grundlagen aller Sicherheit« suggeriert), sondern strebt deren Subversion an. Die »Krise des fundamentalistischen Denkhorizonts« (von der Finanzkrise bis hin zur Krise so genannter »Volksparteien«) weist ja in mindestens zwei Richtungen. Einerseits stellt sie eine direkte »Begegnung mit dem abwesenden Grund der Gesellschaft« dar, erscheint als »Realisierung der Grundlosigkeit«. Andererseits kommt es – gerade weil die Konfrontation mit dieser Leere so traumatisch ist – zu politischen Neo-Fundamentalismen, die Gesellschaft erneut als quasi unwandelbare (Volks-)Gemeinschaft definieren. Dazu gehört ebenso der »ökonomische Determinismus« des Neoliberalismus mit seiner Idee eines Marktes, der rein nach (kapitalistischen)Naturgesetzen funktioniere wie die schon von Foucault beschriebenen »gouvernementalen Techniken«. Also das, was Lacoue-Labarthe/Nancy den »öko-sozio-techno-kulturellen Komplex« nennen (worunter u.a. die Naturalisierung/Biologisierung des Sozialen durch Genetik und Neurowissenschaften zu verstehen ist).
Wobei statt von der Naturalisierung des Sozialen auch von der Kulturalisierung gesprochen werden kann. Laufen doch Debatten wie jene um »Ausländer« genau auf diesen Ebenen. Dazu muss jedoch zuerst eine Gesellschaft (ein Gebilde, das im post-fundamentalistischen Denken per se nie eine Ganzheit erlangen kann, außer als totalitäres Phantasma) zu einer homogenen Gemeinschaft hochstilisiert werden.
Nur, was für eine Gesellschaftsform haben wir dann? Leforts berühmtes Diktum, dass in Demokratien »der Ort der Macht leer« sei (die jetzige SPÖ/ÖVP-Regierung ist dabei nur ein Beispiel), zeigt sich im »postdemokratischen« Diskurs ja gerade dadurch, dass der »entleerte Ort der Macht« mit allen Mitteln geleugnet und mit totalitären Ansprüchen (von Berlusconi über Sarkozy bis hin zu Fekter und den Prölls) aufgefüllt werden will. Die Leugnung des »kontingenten Grunds« der Demokratie (als instabiles Gewusel unterschiedlichster Partikularinteressen) stellt diese selbst in Frage, »dort kann im strengen Sinn nicht länger von Demokratie die Rede sein.« (Marchart)
Das Politische (also die Antagonismen im Inneren) wird dabei zu einem Antagonismus zwischen einem als selbstident herbei fantasierten »Wir« und einem als ebenso homogen gedachten »die Anderen«. Es geht also auch um die Frage, warum der scheinbar einzige Antagonismus, dem wir in der real existierenden Politik begegnen ein rassistischer, rechtsradikaler ist – und warum genau dieser (und nicht etwa jener der Klassenunterschiede, der ökonomischen Ungleichverteilung) zugelassen wird. Soziale und politische Interventionen werden abgelehnt, kommen jedoch als »Polizei« im Sinne von Rancière zurück. Etwa wenn der »anteilslose Teil der Gesellschaft« (Rancière) eine Teilhabe an der Gesellschaft fordert und das Innenministerium die (Fremden-)Polizei mit einem Abschiebebefehl schickt, sich also »Polizei und Politik in der Behandlung eines Unrechts begegnen« (Rancière).
Gerade gegen diese Ausklammerungen der »politischen Dimension des Sozialen« wenden sich nun postfundamentalistische Positionen. Zentraler Punkt ist dabei für Marchart, dass sich das »politische Denken« als »Denken des Politischen neu erfinden« muss. Das mag zuerst einfach und logisch klingen, wie eine klassische linke Aufforderung alte Zöpfe abzuschneiden. Nur, so easy ist das alles nicht. Andere, neue Politikbegriffe müssen zuerst einmal erarbeitet, gedacht werden. Hier kommt nun die Philosophie ins Spiel als ein »Denken ohne Geländer« (Hanna Arendt), dass sich jenseits vermeintlich objektiver Wissenschaften (Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie) ereignet.
Emanzipatorische Politik ist für Marchart ohne die »konstante Infragestellung der eigenen Praxis« (welche Ausschlüsse werden selber produziert, was ist unter »Wir« zu verstehen?) nicht denkbar. Die Einsicht in die eigene instabile Identität definiert dabei auch den Blick auf »die Anderen« und deren instabile Identitäten. Und erst die »Selbst-Verkennung« der eigenen Gespaltenheit ermöglicht ein kollektives Handeln im Sinne eines »als ob« (im Gegensatz zum Vorurteil, dass postidentitäre Theorien »Subjekte« handlungsunfähig machen), bei dem partikulare Forderungen (bessere Bildungschancen) mit anderen Inhalten (Anti-Rassismus) verknüpft werden.
Das »Denken des Politischen« ist noch nie ohne – mitunter hochkomplexe – Theoriewälzer ausgekommen. Wobei nach der Lektüre vor allem auch eines klar wird: Wer das alles schon im Keim ersticken will, kürzt am bestem im Bildungssektor.
Didi Neidhart lebt in Salzburg. Er ist Chefredakteur des österreichischen Musikmagazins »skug« (Wien), schreibt Artikel für u.a. »testcard«, »fiber«, »Pride«, »ray - Filmmagazin« sowie diverse Kunstkataloge und ist DJ und Musiker.