Griechenland vor der Wahl
Erklärbar wird diese enorme politische Fragmentierung durch einen unterschwelligen Ärger über ein allgemeines Unvermögen, Dinge gemeinsam lösen zu können. Er entlädt sich während der vielen Demonstrationen, kann aber auch anhand verschiedener Graffiti besonders im heißen Viertel von Exarchia von den Wänden abgelesen werden: ‚Fuck the Police!‘. Solche Sprüche geben nicht nur wieder, was die auf Anarchismus eingestellten Jugendlichen empfinden und alltäglich zum Ausdruck bringen. Denn gemeinsam ist allen eine Wut auf die Politik.
So fügt eine Nachbarin ihrem üblichen Morgengruß etwas anderes mit Vehemenz hinzu: Sie schäme sich wegen der Politiker. Die seien verantwortlich für die hohen Staatsschulden. Sie unterstreicht ihren Standpunkt damit, dass ihre im Ausland arbeitenden Kindern sich nicht mehr als Griechen zu erkennen geben wollen. Ja, am liebsten würde sie gleich nach Berlin auswandern, gäbe es nicht ihren alten Vater, nach dem sie wie nach einem kleinen Kind schauen müsse.
Scham bedeutet unterm Strich nicht nur einen Verlust an Perspektiven, wie die Zukunft zu sichern sei. Sie deutet viel Schlimmeres an. Dieser Verlust kommt einem Gesichtsverlust gleich, der bekanntlich in Japan zum Selbstmord verleiten kann. Und tatsächlich ist seit dem Ausbruch der Krise die Selbstmordrate in Griechenland gestiegen.
Außer Scham und Ärger sind alltägliche Gespräche in immer stärkerem Maße von Verzweiflung geprägt. Selten wird noch etwas Positives gesagt. Die Krise ist zum Leben mit schlechten Nachrichten geworden. Weil die Politik die Probleme nicht klar benennt, besteht keine Aussicht auf Lösungen. So entsteht ein leerer Kreislauf: Nichts wird gelöst, alles scheint darum vergeblich und letztlich klagen alle. Sie verzweifeln über sich selbst, mehr aber noch über die anderen. Noch mehr wegen des Verlusts an Einkommen, zugleich durch höhere Steuern noch mehr zur Kasse gebeten, müssen selbst Spitzenbeamte einen Verlust an Kaufkraft bis zu 70% hinnehmen. Dabei werden mit jedem neuen Rettungspaket noch schärfere Sparmaßnahmen angekündigt. Die Krise geht weiter, zugleich wird eine sichere Rente immer fraglicher.
Da jeder die Schuld bei den anderen und den Politikern sucht, entsteht Verzweiflung mangels einer kollektiven Verantwortung. Am Anfang der Krise wurde schlicht das Aufdecken der Gründe für die hohen Staatsschulden versäumt. Noch heute ärgern sich viele Griechen darüber, dass keiner aus Politik und etablierter Schicht zur Verantwortung gezogen wurde. Es bestehen einfach zu viele Tabus, um eine offene Diskussion zuzulassen. So wird die ‚Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft‘, sprich das Militär und die Ausgaben dafür, kaum zur Sprache gebracht. Dennoch wechselte Papandreou vor seinem Abgang die oberste Militärspitze komplett aus, um sicher zu gehen, dass die davon getragenenen Pfründe nicht angetastet werden. Auch wurde der ehemalige Premierminister Karamalis nie gefragt, warum das hohe Defizit erst nach seinem Abgang in 2009 aufgedeckt wurde.
Dieses kollektive Schweigen verdeckt, was sich alltäglich zwischen formaler und in-formaler Ebene abspielt. So werden Gesetz mal strikt, mal nicht angewendet, schließlich bleibt Macht durch besondere Privilegien erhalten. Gleich Odysseus, lieber weiter verhandeln als endlich mal Konsequenzen ziehen. Doch solche doppelten Abmachungen, z.B. zwischen Arzt und Patient, erklären warum eine offizielle Zahlung und eine unter dem Tisch systematische Ausgrenzung einer kritischen Öffentlichkeit benötigen. Kein Wunder, wenn dann viele sich schwer tun, überhaupt in der Öffentlichkeit etwas Verbindliches zu artikulieren, geschweige, die Meinung des Anderen anzuhören. Einer verantwortlichen Politik fehlt einfach die soziale Basis, und da jeder eine Institution für sich ist, gilt eine verbindliche Aussage nur bedingt. So scheut jeder wie der Teufel das Weihwasser eine schriftliche Festlegung. Das erklärt die lange Weigerung von Politikern wie Samaras ihre Unterschrift zu geben, obwohl von der Troika verlangt. Darum verzweifelt ebenfalls das Ausland an Griechenland. Kaum scheint etwas geregelt, kommt etwas Unerwartetes hinzu und werden neue Verhandlung verlangt. Als Papandreou nach der Nachtentscheidung zum zweiten Notpaket in Brüssel am 26.10.2011 plötzlich all das zur Disposition eines Referendums stellen wollte, waren die EU Politiker und nicht nur sie entsetzt. Es ist schwer zu wissen, was wirklich Bestand haben wird. Bereits jetzt schon kündigt Samaras von Nea Demokratia den Willen zu Neuverhandlungen an, sollte er bei den kommenden Wahlen die meisten Stimmen erhalten. Zugegeben, in solch einer Landschaft kann es niemals langweilig werden.
Eine kritische Öffentlichkeit ohne Zivilgesellschaft ist unvorstellbar. Sie bedarf eine von unten kommende Bewegung, die unabhängig von sämtlichen Parteien bleibt. So geschah es auch im vergangenen Jahr, als täglich Versammlungen auf dem Syntagma Platz statt fanden. Tausende von Menschen übten sich nach dem Vorbild von Tahrir Platz in Kairo oder von Spanien im öffentlichen Diskurs. Jeder durfte nur zwei Minuten lang reden. Es gab Komitees, Übersetzer, ja mit der Zeit eine komplexe Infra- und Kommunikationsstruktur. Dies blieb aber nur bis Juni im vergangenen Jahr bestehen. Dann fegte die Gewalt einer zweitägigen Demonstration über den Platz. Das schlug alle, auch die in Zelten lebenden Aktivisten, in die Flucht. Seitdem fehlt den Menschen die Chance ihre Stimme öffentlich zu hören.
Solch eine Politik hat System in Griechenland. Eine kritische und unabhängige Öffentlichkeit gibt es nicht. Die Parteien, Gewerkschaften und Kirche dominieren überall, auch in den Universitäten. Sie lassen die Jugendlichen verzweifeln. Das zeigte sich, als der 15-jährige Alexandros von einem Polizisten am 6. Dezember 2008 in Exarchia erschossen wurde. Daraufhin entbrannte eine geballte Wut. Nicht aber die Straßenschlachten waren so sehr die wichtigsten Elemente des Protestes. Vielmehr richteten sich die Jugendlichen gegen die Korruption der Gesellschaft, und damit auch gegen ihre eigenen Eltern. Ein Generationsbruch oder auch Kontinuität zu den Polytechnik-Studenten, die am 17. November 1973 es wagten, sich gegen die Junta aufzulehnen, ist ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Da diese Kritik am System 2008 geschah, also noch ehe das Staatshaushaltsdefizit aufgedeckt worden war, kündigte der Ärger der Jugendlichen bereits damals einiges an. Sie wissen, um eine gute Einstellung zu bekommen, zählen nur Beziehungen, doch das lehnen sie ab und das auf Kosten ihrer eigenen Qualifikation.
Heute hat sich die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen drastisch verschärft. In Umlauf wird jetzt ein Ratschlag gebracht: Sage ja nicht einem potentiellen Arbeitgeber die wirkliche Qualifikation, weil dann bist du ohne Aussicht auf Einstellung. Die Krise fördert also nicht Erziehung als Zukunftsinvestition, sondern eine massive Disqualifizierung. Das geht einher mit Lohnkürzungen und bringt Griechenland auf gleiche Basis mit Dänemark. Dort gibt es nur höchst qualifizierte Arbeiten oder Dreck-Arbeiten oder Dienstleistungen auf unterstem Niveau. Diese soziale Spaltung entsteht, wenn Firmen ins Ausland abwandern und im mittleren Bereich keine Aussicht auf Beschäftigung besteht.
Eines macht die jetzige Situation in Griechenland deutlich. Jene ohne Arbeit versuchen wie in Kairo vom Müll zu leben. Täglich schwärmen sie mit einem Einkaufswagen aus, um Mülltonnen nach brauchbaren Materialien zu durchwühlen. Es ist eine neue Form der Müllbeseitigung. Athen hatte es bislang noch nicht geschafft, den Müll nach verschiedenen Kategorien zu sortieren. Die Krise macht etwas Unerwartetes möglich, aber zu welchen Kosten?
Besonders das Erziehungssystem zeigt, was auf Kosten der Jugend geschieht. Laut Mythos sei das öffentliche Erziehungssystem ineffizient. Folglich schicken Eltern ihre Kinder zusätzlich zum Nachhilfeunterricht, so dass sie die Aufnahme in eine der begehrten Hochschulen schaffen. Weil Numerus Clausus besteht, brauchen sie gute Noten. So lernen sie nach der Schule das nötige Wissen für die Prüfung auswendig, nicht aber wie etwas zu hinterfragen sei. Und da aus dieser Ineffizienz viel Geld zu verdienen ist, will niemand zugunsten von öffentlicher Effizienz das ändern. Ähnliches spielt sich ab, wenn es sich um den ineffizienten Verwaltungsapparat dreht.
Die Dichterin Katerina Anghelaki Rooke meint, weil Geld zum einzigen Gott geworden sei, sei die Krise nicht nur ein finanzielles Problem. In einem ihrer Gedichte beschreibt sie die Oligarchie der Angst. Jeder fügt sich ihr, und obwohl trotzdem weiter gespielt wird, so als gäbe es sie nicht, weiß jeder: Am Ende wird nur einer niemals verlieren: der Tod.